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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Stereoskop.
Achse horizontal und senkrecht gegen die Verbindungslinien der beiden Augenmittel-
punkte gerichtet ist, dann entwirft er bei einer gewissen Entfernung in den Augen
[Abbildung] Fig. 70.
[Abbildung] Fig. 71.
zwei Bilder, etwa wie in Fig. 70, von diesen gehört R
dem rechten und L dem linken an; ihre Stellung zu
einander muss die hier gezeichnete sein, wenn sie im
Stereoskop als Kegel erscheinen sollen. Bringen wir
nun vor jedes Auge eine Röhre (eine Papierrolle) von
der Länge mehrerer Zolle Figur 71 A B, A' B' und legen
an ihr freies Ende die Zeichnungen L, R
in der bezeichneten Stellung, so decken
sich beide Figuren sehr bald und erzeu-
gen dann das Bild zweier vor einander
schwebender Kreise, von denen der klei-
nere den Augen beträchtlich näher liegt
als der grössere. Da nun die an der Zeich-
nung zu einander gehörigen Punkte der Kör-
per nicht gleichzeitig auf zugeordnete Netz-
hautstellen fallen, so kann das einfache Bild
aus beiden Figuren nicht durch ein gleich-
zeitiges Zusammenlegen der verschiede-
nen Bildpunkte, sondern nur dadurch ent-
stehen, dass die zugeordne-
ten Stellen in zeitlicher Folge
über die zugehörigen Bild-
punkte geführt werden; in-
dem dieses aber geschieht,
müssen sich die Conver-
genzwinkel der beiden Au-
genachsen ändern. Denn ge-
setzt, man wollte von den
zu einander gehörigen Punk-
ten der Zeichnungen I, I zu
den II, II übergehen, und
zwar beide Male den Ort mit
der beliebigen identischen
Stelle, die sich am Schnitt-
punkt der Sehachse mit der
Retina findet, betrachten, so
würde bei Betrachtung von
I I der Convergenzwinkel der Augenachsen D E F und für II, II der Convergenzwin-
kel G H J sein müssen. Da uns nun ein Gegenstand um so näher erscheint, je grös-
ser der Convergenzwinkel, mit dem wir ihn ansehen, so wird da D E F > G H J
der Punkt I vor II zu schweben scheinen.

Durch welchen Mechanismus nun Lichtstärke, Accommodationsbewegung und
Achsenconvergenz das Urtheil bestimmen, ist noch nicht ermittelt; um die Psycho-
logen zu beruhigen, darf man zugeben, dass der aus den drei Elementen resultirende
Eindruck noch nicht die Vorstellung der Entfernung ist, es muss aber festgehalten
werden, dass sich in der Seele an eine besondere Combination der drei Elemente
so gewiss die zugehörige Vorstellung kettet, wie die Waagschale zu Boden sinkt,
wenn sie belastet wird. Insofern man die Ausbildung des Vermögens mit dem Vor-
handensein des Vermögens überhaupt verwechselte, hat man die sogenannte objek-
tive Natur dieser Phänomene (d. h. ihr Gebundensein an einen in dem Hirn vorge-
bildeten Mechanismus irgend welcher Art) oft verkannt.

Ludwig, Physiologie I. 17

Stereoskop.
Achse horizontal und senkrecht gegen die Verbindungslinien der beiden Augenmittel-
punkte gerichtet ist, dann entwirft er bei einer gewissen Entfernung in den Augen
[Abbildung] Fig. 70.
[Abbildung] Fig. 71.
zwei Bilder, etwa wie in Fig. 70, von diesen gehört R
dem rechten und L dem linken an; ihre Stellung zu
einander muss die hier gezeichnete sein, wenn sie im
Stereoskop als Kegel erscheinen sollen. Bringen wir
nun vor jedes Auge eine Röhre (eine Papierrolle) von
der Länge mehrerer Zolle Figur 71 A B, A′ B′ und legen
an ihr freies Ende die Zeichnungen L, R
in der bezeichneten Stellung, so decken
sich beide Figuren sehr bald und erzeu-
gen dann das Bild zweier vor einander
schwebender Kreise, von denen der klei-
nere den Augen beträchtlich näher liegt
als der grössere. Da nun die an der Zeich-
nung zu einander gehörigen Punkte der Kör-
per nicht gleichzeitig auf zugeordnete Netz-
hautstellen fallen, so kann das einfache Bild
aus beiden Figuren nicht durch ein gleich-
zeitiges Zusammenlegen der verschiede-
nen Bildpunkte, sondern nur dadurch ent-
stehen, dass die zugeordne-
ten Stellen in zeitlicher Folge
über die zugehörigen Bild-
punkte geführt werden; in-
dem dieses aber geschieht,
müssen sich die Conver-
genzwinkel der beiden Au-
genachsen ändern. Denn ge-
setzt, man wollte von den
zu einander gehörigen Punk-
ten der Zeichnungen I, I zu
den II, II übergehen, und
zwar beide Male den Ort mit
der beliebigen identischen
Stelle, die sich am Schnitt-
punkt der Sehachse mit der
Retina findet, betrachten, so
würde bei Betrachtung von
I I der Convergenzwinkel der Augenachsen D E F und für II, II der Convergenzwin-
kel G H J sein müssen. Da uns nun ein Gegenstand um so näher erscheint, je grös-
ser der Convergenzwinkel, mit dem wir ihn ansehen, so wird da D E F > G H J
der Punkt I vor II zu schweben scheinen.

Durch welchen Mechanismus nun Lichtstärke, Accommodationsbewegung und
Achsenconvergenz das Urtheil bestimmen, ist noch nicht ermittelt; um die Psycho-
logen zu beruhigen, darf man zugeben, dass der aus den drei Elementen resultirende
Eindruck noch nicht die Vorstellung der Entfernung ist, es muss aber festgehalten
werden, dass sich in der Seele an eine besondere Combination der drei Elemente
so gewiss die zugehörige Vorstellung kettet, wie die Waagschale zu Boden sinkt,
wenn sie belastet wird. Insofern man die Ausbildung des Vermögens mit dem Vor-
handensein des Vermögens überhaupt verwechselte, hat man die sogenannte objek-
tive Natur dieser Phänomene (d. h. ihr Gebundensein an einen in dem Hirn vorge-
bildeten Mechanismus irgend welcher Art) oft verkannt.

Ludwig, Physiologie I. 17
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[257/0271] Stereoskop. Achse horizontal und senkrecht gegen die Verbindungslinien der beiden Augenmittel- punkte gerichtet ist, dann entwirft er bei einer gewissen Entfernung in den Augen [Abbildung Fig. 70.] [Abbildung Fig. 71.] zwei Bilder, etwa wie in Fig. 70, von diesen gehört R dem rechten und L dem linken an; ihre Stellung zu einander muss die hier gezeichnete sein, wenn sie im Stereoskop als Kegel erscheinen sollen. Bringen wir nun vor jedes Auge eine Röhre (eine Papierrolle) von der Länge mehrerer Zolle Figur 71 A B, A′ B′ und legen an ihr freies Ende die Zeichnungen L, R in der bezeichneten Stellung, so decken sich beide Figuren sehr bald und erzeu- gen dann das Bild zweier vor einander schwebender Kreise, von denen der klei- nere den Augen beträchtlich näher liegt als der grössere. Da nun die an der Zeich- nung zu einander gehörigen Punkte der Kör- per nicht gleichzeitig auf zugeordnete Netz- hautstellen fallen, so kann das einfache Bild aus beiden Figuren nicht durch ein gleich- zeitiges Zusammenlegen der verschiede- nen Bildpunkte, sondern nur dadurch ent- stehen, dass die zugeordne- ten Stellen in zeitlicher Folge über die zugehörigen Bild- punkte geführt werden; in- dem dieses aber geschieht, müssen sich die Conver- genzwinkel der beiden Au- genachsen ändern. Denn ge- setzt, man wollte von den zu einander gehörigen Punk- ten der Zeichnungen I, I zu den II, II übergehen, und zwar beide Male den Ort mit der beliebigen identischen Stelle, die sich am Schnitt- punkt der Sehachse mit der Retina findet, betrachten, so würde bei Betrachtung von I I der Convergenzwinkel der Augenachsen D E F und für II, II der Convergenzwin- kel G H J sein müssen. Da uns nun ein Gegenstand um so näher erscheint, je grös- ser der Convergenzwinkel, mit dem wir ihn ansehen, so wird da D E F > G H J der Punkt I vor II zu schweben scheinen. Durch welchen Mechanismus nun Lichtstärke, Accommodationsbewegung und Achsenconvergenz das Urtheil bestimmen, ist noch nicht ermittelt; um die Psycho- logen zu beruhigen, darf man zugeben, dass der aus den drei Elementen resultirende Eindruck noch nicht die Vorstellung der Entfernung ist, es muss aber festgehalten werden, dass sich in der Seele an eine besondere Combination der drei Elemente so gewiss die zugehörige Vorstellung kettet, wie die Waagschale zu Boden sinkt, wenn sie belastet wird. Insofern man die Ausbildung des Vermögens mit dem Vor- handensein des Vermögens überhaupt verwechselte, hat man die sogenannte objek- tive Natur dieser Phänomene (d. h. ihr Gebundensein an einen in dem Hirn vorge- bildeten Mechanismus irgend welcher Art) oft verkannt. Ludwig, Physiologie I. 17

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/271>, abgerufen am 26.04.2024.