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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Erstes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.
rektur; wenn sie aber Handlungen sind, warum spricht man
von Unterlassungen? --

Man könnte versucht sein, die Unterlassungen als nega-
tive rein psychische Handlungen aufzufassen: die bewußte und
durch Vorstellungen bestimmte Nicht-Erregung der motorischen
Nerven. Auch der Entschluß, nicht zu handeln ist ja ein
psychischer Akt.2 Aber abgesehen davon, daß wir damit den
nicht in Bewegung umgesetzten Gedanken, (denn mehr als
eine Vorstellung, deren Sieg entschieden, ist der "Entschluß"
nicht) zum Verbrechen stempeln, scheitert dieser Versuch an
der nicht wegzuleugnenden Thatsache der fahrlässigen
Unterlassungsdelikte, bei welchen ein solcher Entschluß nicht
vorliegt.

Oder man könnte das Schwergewicht auf die der Unter-
lassung vorangehende positive Thätigkeit legen, wie Krug,
Glaser, Merkel
das gethan; damit rettet man den Be-
griff der Handlung, vernichtet aber die Unterlassung völlig,
und gerät in weitaus den meisten praktischen Fällen mit
dem obersten Grundsatze der Schuldlehre: "die Schuld muß
im Augenblicke der Verursachung vorhanden sein" -- in
unlösbaren Widerspruch.

II. Es ist ein anderer Weg noch möglich, der nur darum
von den Meisten übersehen wird, weil er so nahe liegt.
Unterlassen heißt nicht Nichtsthun, sondern: Etwas nicht
thun;
das nicht thun, was erwartet, was gesollt wurde.
Unterlassung ist Nichtthätigkeit mit Rücksicht auf ein ganz be-
stimmtes erwartetes Thun; nicht ein Nicht-Handeln, son-

2 [Spaltenumbruch] Im Grunde genommen ist
die Binding'sche Konstruktion
der sog. unechten Unterlassungs-[Spaltenumbruch] delikte auf diesen Gedanken
zurückzuführen.

Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung.
rektur; wenn ſie aber Handlungen ſind, warum ſpricht man
von Unterlaſſungen? —

Man könnte verſucht ſein, die Unterlaſſungen als nega-
tive rein pſychiſche Handlungen aufzufaſſen: die bewußte und
durch Vorſtellungen beſtimmte Nicht-Erregung der motoriſchen
Nerven. Auch der Entſchluß, nicht zu handeln iſt ja ein
pſychiſcher Akt.2 Aber abgeſehen davon, daß wir damit den
nicht in Bewegung umgeſetzten Gedanken, (denn mehr als
eine Vorſtellung, deren Sieg entſchieden, iſt der „Entſchluß“
nicht) zum Verbrechen ſtempeln, ſcheitert dieſer Verſuch an
der nicht wegzuleugnenden Thatſache der fahrläſſigen
Unterlaſſungsdelikte, bei welchen ein ſolcher Entſchluß nicht
vorliegt.

Oder man könnte das Schwergewicht auf die der Unter-
laſſung vorangehende poſitive Thätigkeit legen, wie Krug,
Glaſer, Merkel
das gethan; damit rettet man den Be-
griff der Handlung, vernichtet aber die Unterlaſſung völlig,
und gerät in weitaus den meiſten praktiſchen Fällen mit
dem oberſten Grundſatze der Schuldlehre: „die Schuld muß
im Augenblicke der Verurſachung vorhanden ſein“ — in
unlösbaren Widerſpruch.

II. Es iſt ein anderer Weg noch möglich, der nur darum
von den Meiſten überſehen wird, weil er ſo nahe liegt.
Unterlaſſen heißt nicht Nichtsthun, ſondern: Etwas nicht
thun;
das nicht thun, was erwartet, was geſollt wurde.
Unterlaſſung iſt Nichtthätigkeit mit Rückſicht auf ein ganz be-
ſtimmtes erwartetes Thun; nicht ein Nicht-Handeln, ſon-

2 [Spaltenumbruch] Im Grunde genommen iſt
die Binding’ſche Konſtruktion
der ſog. unechten Unterlaſſungs-[Spaltenumbruch] delikte auf dieſen Gedanken
zurückzuführen.
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[80/0106] Erſtes Buch. II. Das Verbrechen als Handlung. rektur; wenn ſie aber Handlungen ſind, warum ſpricht man von Unterlaſſungen? — Man könnte verſucht ſein, die Unterlaſſungen als nega- tive rein pſychiſche Handlungen aufzufaſſen: die bewußte und durch Vorſtellungen beſtimmte Nicht-Erregung der motoriſchen Nerven. Auch der Entſchluß, nicht zu handeln iſt ja ein pſychiſcher Akt. 2 Aber abgeſehen davon, daß wir damit den nicht in Bewegung umgeſetzten Gedanken, (denn mehr als eine Vorſtellung, deren Sieg entſchieden, iſt der „Entſchluß“ nicht) zum Verbrechen ſtempeln, ſcheitert dieſer Verſuch an der nicht wegzuleugnenden Thatſache der fahrläſſigen Unterlaſſungsdelikte, bei welchen ein ſolcher Entſchluß nicht vorliegt. Oder man könnte das Schwergewicht auf die der Unter- laſſung vorangehende poſitive Thätigkeit legen, wie Krug, Glaſer, Merkel das gethan; damit rettet man den Be- griff der Handlung, vernichtet aber die Unterlaſſung völlig, und gerät in weitaus den meiſten praktiſchen Fällen mit dem oberſten Grundſatze der Schuldlehre: „die Schuld muß im Augenblicke der Verurſachung vorhanden ſein“ — in unlösbaren Widerſpruch. II. Es iſt ein anderer Weg noch möglich, der nur darum von den Meiſten überſehen wird, weil er ſo nahe liegt. Unterlaſſen heißt nicht Nichtsthun, ſondern: Etwas nicht thun; das nicht thun, was erwartet, was geſollt wurde. Unterlaſſung iſt Nichtthätigkeit mit Rückſicht auf ein ganz be- ſtimmtes erwartetes Thun; nicht ein Nicht-Handeln, ſon- 2 Im Grunde genommen iſt die Binding’ſche Konſtruktion der ſog. unechten Unterlaſſungs- delikte auf dieſen Gedanken zurückzuführen.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/106>, abgerufen am 26.04.2024.