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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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Vier Wochen später.

Seit dem Erscheinen der ersten, über Erwarten rasch vergriffenen
Auflage dieser Broschüre (in welcher kein Wort geändert ward), hat die
orientalische Frage in sofern eine neue Gestalt angenommen, als Ruß-
land, um England nicht zum Aeußersten zu treiben, vom letzten Schritt,
der Besetzung Constantinopels, abgestanden ist, die Türkei aber, von all
ihren "natürlichen Bundesgenossen" im Stich gelassen, sich den russischen
Waffenstillstands-Bedingungen unterworfen hat. Weder Oestreich noch
England haben sich zu energischem Handeln entschließen können. Eng-
land
hat seine Flotte ins Marmarameer geschickt, nachdem die Tory-
regierung die "liberale" Opposition zersprengt; es rüstet zum Krieg,
ist aber bis jetzt noch nicht zur Erklärung des Kriegs gelangt. Eine
wahrhaft klägliche Rolle spielt nach wie vor Oestreich. Es rasselt
abwechselnd mit dem Säbel, um sich zurückzuziehen, und zieht sich
zurück, um wieder mit dem Säbel zu rasseln. Zum Theil ist der
Grund für diese jämmerliche Haltung in der Feigheit und Unfähigkeit
der Regierung zu suchen, welche die Oestreich drohende Gefahr nicht be-
greift und in ihrer Verblendung den russischen Versprechungen und Lock-
rufen nicht ganz unzugänglich ist. Aber auch die Furcht wirkt mit,
und zwar nicht die Furcht vor Rußland. Die militärische Machtent-
faltung Rußlands ist keineswegs imposant. Es steht nun fest, daß die
Russen nach dem Falle von Plewna nicht über den Balkan gekommen
wären, wenn die Türken nicht, durch englische Rathschläge irre geleitet,
an einen Waffenstillstand geglaubt, und in diesem Glauben die nöthigen
Vertheidigungsmaßregeln unterlassen hätten. Und auch jetzt noch ist die
Lage der russischen Armee eine solche, daß es den Oestreichern ein
Leichtes wäre, sie ohne sonderliche Mühe aus der Balkanhalbinsel hinaus-
zujagen. Aber die östreichische Regierung fühlt sich nicht rücken-
frei.
Sie hat Sadowa und Königsgrätz nicht vergessen, sie erinnert
sich der famosen "Stoß ins Herznote" und -- zaudert. Es ist wahr,
inzwischen hat Fürst Bismarck im Reichstag "gesprochen" und den
Grafen Andrassy mit Zärtlichkeiten überhäuft -- die von den Sozial-
demokraten beabsichtigte Jnterpellation ist nämlich, um ihr die reichs-

Vier Wochen ſpäter.

Seit dem Erſcheinen der erſten, über Erwarten raſch vergriffenen
Auflage dieſer Broſchüre (in welcher kein Wort geändert ward), hat die
orientaliſche Frage in ſofern eine neue Geſtalt angenommen, als Ruß-
land, um England nicht zum Aeußerſten zu treiben, vom letzten Schritt,
der Beſetzung Conſtantinopels, abgeſtanden iſt, die Türkei aber, von all
ihren „natürlichen Bundesgenoſſen‟ im Stich gelaſſen, ſich den ruſſiſchen
Waffenſtillſtands-Bedingungen unterworfen hat. Weder Oeſtreich noch
England haben ſich zu energiſchem Handeln entſchließen können. Eng-
land
hat ſeine Flotte ins Marmarameer geſchickt, nachdem die Tory-
regierung die „liberale‟ Oppoſition zerſprengt; es rüſtet zum Krieg,
iſt aber bis jetzt noch nicht zur Erklärung des Kriegs gelangt. Eine
wahrhaft klägliche Rolle ſpielt nach wie vor Oeſtreich. Es raſſelt
abwechſelnd mit dem Säbel, um ſich zurückzuziehen, und zieht ſich
zurück, um wieder mit dem Säbel zu raſſeln. Zum Theil iſt der
Grund für dieſe jämmerliche Haltung in der Feigheit und Unfähigkeit
der Regierung zu ſuchen, welche die Oeſtreich drohende Gefahr nicht be-
greift und in ihrer Verblendung den ruſſiſchen Verſprechungen und Lock-
rufen nicht ganz unzugänglich iſt. Aber auch die Furcht wirkt mit,
und zwar nicht die Furcht vor Rußland. Die militäriſche Machtent-
faltung Rußlands iſt keineswegs impoſant. Es ſteht nun feſt, daß die
Ruſſen nach dem Falle von Plewna nicht über den Balkan gekommen
wären, wenn die Türken nicht, durch engliſche Rathſchläge irre geleitet,
an einen Waffenſtillſtand geglaubt, und in dieſem Glauben die nöthigen
Vertheidigungsmaßregeln unterlaſſen hätten. Und auch jetzt noch iſt die
Lage der ruſſiſchen Armee eine ſolche, daß es den Oeſtreichern ein
Leichtes wäre, ſie ohne ſonderliche Mühe aus der Balkanhalbinſel hinaus-
zujagen. Aber die öſtreichiſche Regierung fühlt ſich nicht rücken-
frei.
Sie hat Sadowa und Königsgrätz nicht vergeſſen, ſie erinnert
ſich der famoſen „Stoß ins Herznote‟ und — zaudert. Es iſt wahr,
inzwiſchen hat Fürſt Bismarck im Reichstag „geſprochen‟ und den
Grafen Andraſſy mit Zärtlichkeiten überhäuft — die von den Sozial-
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[[47]/0051] Vier Wochen ſpäter. Seit dem Erſcheinen der erſten, über Erwarten raſch vergriffenen Auflage dieſer Broſchüre (in welcher kein Wort geändert ward), hat die orientaliſche Frage in ſofern eine neue Geſtalt angenommen, als Ruß- land, um England nicht zum Aeußerſten zu treiben, vom letzten Schritt, der Beſetzung Conſtantinopels, abgeſtanden iſt, die Türkei aber, von all ihren „natürlichen Bundesgenoſſen‟ im Stich gelaſſen, ſich den ruſſiſchen Waffenſtillſtands-Bedingungen unterworfen hat. Weder Oeſtreich noch England haben ſich zu energiſchem Handeln entſchließen können. Eng- land hat ſeine Flotte ins Marmarameer geſchickt, nachdem die Tory- regierung die „liberale‟ Oppoſition zerſprengt; es rüſtet zum Krieg, iſt aber bis jetzt noch nicht zur Erklärung des Kriegs gelangt. Eine wahrhaft klägliche Rolle ſpielt nach wie vor Oeſtreich. Es raſſelt abwechſelnd mit dem Säbel, um ſich zurückzuziehen, und zieht ſich zurück, um wieder mit dem Säbel zu raſſeln. Zum Theil iſt der Grund für dieſe jämmerliche Haltung in der Feigheit und Unfähigkeit der Regierung zu ſuchen, welche die Oeſtreich drohende Gefahr nicht be- greift und in ihrer Verblendung den ruſſiſchen Verſprechungen und Lock- rufen nicht ganz unzugänglich iſt. Aber auch die Furcht wirkt mit, und zwar nicht die Furcht vor Rußland. Die militäriſche Machtent- faltung Rußlands iſt keineswegs impoſant. Es ſteht nun feſt, daß die Ruſſen nach dem Falle von Plewna nicht über den Balkan gekommen wären, wenn die Türken nicht, durch engliſche Rathſchläge irre geleitet, an einen Waffenſtillſtand geglaubt, und in dieſem Glauben die nöthigen Vertheidigungsmaßregeln unterlaſſen hätten. Und auch jetzt noch iſt die Lage der ruſſiſchen Armee eine ſolche, daß es den Oeſtreichern ein Leichtes wäre, ſie ohne ſonderliche Mühe aus der Balkanhalbinſel hinaus- zujagen. Aber die öſtreichiſche Regierung fühlt ſich nicht rücken- frei. Sie hat Sadowa und Königsgrätz nicht vergeſſen, ſie erinnert ſich der famoſen „Stoß ins Herznote‟ und — zaudert. Es iſt wahr, inzwiſchen hat Fürſt Bismarck im Reichstag „geſprochen‟ und den Grafen Andraſſy mit Zärtlichkeiten überhäuft — die von den Sozial- demokraten beabſichtigte Jnterpellation iſt nämlich, um ihr die reichs-

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. [47]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/51>, abgerufen am 21.11.2024.