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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. I. Fragment.
der Stirn aus dem Verhältnisse dieser Linien wenigstens überhaupt zu finden ist -- und
noch viel genauere, bestimmtere, und überzeugendere Versuche können gemacht werden. Jndem ich
dieß schreibe, bin ich mit Angebung einer Maschiene beschäfftigt, wodurch von jeder Stirne, auch
ohne Schattenriß, die Form sollte abgenommen, und zugleich das Maaß ihrer Capazität genau be-
stimmt, und besonders das wichtige Verhältniß der Stirngrundlinie zu ihrem Profile gefunden
werden können. Aus dieser muß sich nach und nach eine allgemein verständliche, brauchbare Pro-
portionaltafel für alle Fähigkeiten der Seele ergeben -- dann wird, hoff' ich, kein Weiser und kein
Thor die Wahrheit mehr bezweifeln:

Die Talente zeigen sich in den festen Theilen des Körpers.

Liebe Liebhaber der Wahrheit -- was kann ich thun als Versuche machen? was sagen?
als mit harmlosem Jnteresse für die Wahrheit -- für Gottes Stimme, Gottes Wort und Offen-
barung in der Menschengestalt, bitten -- "nur Versuche gemacht!" -- Folianten von Witze-
leyen können nicht Ein Blatt, nicht Eine Zeile richtig gemachter Versuche aufwägen. -- "Nur
Versuche gemacht!
" -- und mit unerbittlicher Verachtung alle schöngeistische Unphilosophie ver-
achtet, die nicht Versuche machen -- gemachte Versuche nicht sehen will -- und mit la-
chender und lächelnder Stimme ruft:

"Das kann nicht seyn -- was ist!" --

Versuche gemacht -- und so gewiß ich dieß schreibe -- so gewiß Jhr dieß leset, finden
werdet Jhr -- daß jede Stirn eines natürlichen Dummkopfs, von dem ihr wißt -- daß
er's ist -- in allen ihren Umrissen wesentlich abweicht von der Stirn eines Genies, das
Jhr sonst als solches kennt.
Nur Versuche gemacht -- und man wird allemal finden, daß
die Stirn, Stirn eines Narren ist -- deren Grundlinie um 2/3 kürzer ist, als ihre Höhe.
Jst sie noch kürzer, verhältnißweise zu ihrer Perpendikularhöhe, desto dummer der
Mensch; je länger hingegen die Horizontal- und je gleichförmiger ihrer Diagonallinie,
desto verständiger kann sie seyn. Je plötzlicher und merklicher sich die Radii eines Qua-
dranten, dessen rechten Winkel man auf besagten rechten Winkel der Stirn applizirt --
je plötzlicher sich die Radii, die z. E. zu 10. Graden von einander abstehen, in unglei-
chem Verhältnisse verkürzen; desto dummer der Mensch; desto weiser, je verhältniß-

mäßiger

I. Abſchnitt. I. Fragment.
der Stirn aus dem Verhaͤltniſſe dieſer Linien wenigſtens uͤberhaupt zu finden iſt — und
noch viel genauere, beſtimmtere, und uͤberzeugendere Verſuche koͤnnen gemacht werden. Jndem ich
dieß ſchreibe, bin ich mit Angebung einer Maſchiene beſchaͤfftigt, wodurch von jeder Stirne, auch
ohne Schattenriß, die Form ſollte abgenommen, und zugleich das Maaß ihrer Capazitaͤt genau be-
ſtimmt, und beſonders das wichtige Verhaͤltniß der Stirngrundlinie zu ihrem Profile gefunden
werden koͤnnen. Aus dieſer muß ſich nach und nach eine allgemein verſtaͤndliche, brauchbare Pro-
portionaltafel fuͤr alle Faͤhigkeiten der Seele ergeben — dann wird, hoff’ ich, kein Weiſer und kein
Thor die Wahrheit mehr bezweifeln:

Die Talente zeigen ſich in den feſten Theilen des Koͤrpers.

Liebe Liebhaber der Wahrheit — was kann ich thun als Verſuche machen? was ſagen?
als mit harmloſem Jntereſſe fuͤr die Wahrheit — fuͤr Gottes Stimme, Gottes Wort und Offen-
barung in der Menſchengeſtalt, bitten — „nur Verſuche gemacht!“ — Folianten von Witze-
leyen koͤnnen nicht Ein Blatt, nicht Eine Zeile richtig gemachter Verſuche aufwaͤgen. — „Nur
Verſuche gemacht!
“ — und mit unerbittlicher Verachtung alle ſchoͤngeiſtiſche Unphiloſophie ver-
achtet, die nicht Verſuche machen — gemachte Verſuche nicht ſehen will — und mit la-
chender und laͤchelnder Stimme ruft:

Das kann nicht ſeyn — was iſt!“ —

Verſuche gemacht — und ſo gewiß ich dieß ſchreibe — ſo gewiß Jhr dieß leſet, finden
werdet Jhr — daß jede Stirn eines natuͤrlichen Dummkopfs, von dem ihr wißt — daß
er’s iſt — in allen ihren Umriſſen weſentlich abweicht von der Stirn eines Genies, das
Jhr ſonſt als ſolches kennt.
Nur Verſuche gemacht — und man wird allemal finden, daß
die Stirn, Stirn eines Narren iſt — deren Grundlinie um ⅔ kuͤrzer iſt, als ihre Hoͤhe.
Jſt ſie noch kuͤrzer, verhaͤltnißweiſe zu ihrer Perpendikularhoͤhe, deſto dummer der
Menſch; je laͤnger hingegen die Horizontal- und je gleichfoͤrmiger ihrer Diagonallinie,
deſto verſtaͤndiger kann ſie ſeyn. Je ploͤtzlicher und merklicher ſich die Radii eines Qua-
dranten, deſſen rechten Winkel man auf beſagten rechten Winkel der Stirn applizirt —
je ploͤtzlicher ſich die Radii, die z. E. zu 10. Graden von einander abſtehen, in unglei-
chem Verhaͤltniſſe verkuͤrzen; deſto dummer der Menſch; deſto weiſer, je verhaͤltniß-

maͤßiger
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[24/0046] I. Abſchnitt. I. Fragment. der Stirn aus dem Verhaͤltniſſe dieſer Linien wenigſtens uͤberhaupt zu finden iſt — und noch viel genauere, beſtimmtere, und uͤberzeugendere Verſuche koͤnnen gemacht werden. Jndem ich dieß ſchreibe, bin ich mit Angebung einer Maſchiene beſchaͤfftigt, wodurch von jeder Stirne, auch ohne Schattenriß, die Form ſollte abgenommen, und zugleich das Maaß ihrer Capazitaͤt genau be- ſtimmt, und beſonders das wichtige Verhaͤltniß der Stirngrundlinie zu ihrem Profile gefunden werden koͤnnen. Aus dieſer muß ſich nach und nach eine allgemein verſtaͤndliche, brauchbare Pro- portionaltafel fuͤr alle Faͤhigkeiten der Seele ergeben — dann wird, hoff’ ich, kein Weiſer und kein Thor die Wahrheit mehr bezweifeln: Die Talente zeigen ſich in den feſten Theilen des Koͤrpers. Liebe Liebhaber der Wahrheit — was kann ich thun als Verſuche machen? was ſagen? als mit harmloſem Jntereſſe fuͤr die Wahrheit — fuͤr Gottes Stimme, Gottes Wort und Offen- barung in der Menſchengeſtalt, bitten — „nur Verſuche gemacht!“ — Folianten von Witze- leyen koͤnnen nicht Ein Blatt, nicht Eine Zeile richtig gemachter Verſuche aufwaͤgen. — „Nur Verſuche gemacht!“ — und mit unerbittlicher Verachtung alle ſchoͤngeiſtiſche Unphiloſophie ver- achtet, die nicht Verſuche machen — gemachte Verſuche nicht ſehen will — und mit la- chender und laͤchelnder Stimme ruft: „Das kann nicht ſeyn — was iſt!“ — Verſuche gemacht — und ſo gewiß ich dieß ſchreibe — ſo gewiß Jhr dieß leſet, finden werdet Jhr — daß jede Stirn eines natuͤrlichen Dummkopfs, von dem ihr wißt — daß er’s iſt — in allen ihren Umriſſen weſentlich abweicht von der Stirn eines Genies, das Jhr ſonſt als ſolches kennt. Nur Verſuche gemacht — und man wird allemal finden, daß die Stirn, Stirn eines Narren iſt — deren Grundlinie um ⅔ kuͤrzer iſt, als ihre Hoͤhe. Jſt ſie noch kuͤrzer, verhaͤltnißweiſe zu ihrer Perpendikularhoͤhe, deſto dummer der Menſch; je laͤnger hingegen die Horizontal- und je gleichfoͤrmiger ihrer Diagonallinie, deſto verſtaͤndiger kann ſie ſeyn. Je ploͤtzlicher und merklicher ſich die Radii eines Qua- dranten, deſſen rechten Winkel man auf beſagten rechten Winkel der Stirn applizirt — je ploͤtzlicher ſich die Radii, die z. E. zu 10. Graden von einander abſtehen, in unglei- chem Verhaͤltniſſe verkuͤrzen; deſto dummer der Menſch; deſto weiſer, je verhaͤltniß- maͤßiger

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/46>, abgerufen am 26.04.2024.