Brüder, auch ihr bedürfet ein gewisses Maaß Physiognomik -- und, Fürsten ausgenommen, vielleicht keine Menschen so sehr, wie ihr.
Jhr sollt wissen, wen ihr vor euch habt -- und die Geister scharf prüfen, um jedem das Wort der Wahrheit nach seinem Bedürfnisse und seiner Fähigkeit recht zuzuschneiden.
Wem ist's vortheilhafter als euch, den Grad der wirklichen Tugend und Tugendempfänglichkeit eines jeden, der vor euch kömmt, bestimmen zu können?
Unentbehrlicher als mein Liturgienbuch ist mir Geistlichen die Physiognomik.
Beym Lehren -- beym Ermahnen -- beym Trösten -- beym Strafen -- beym Prüfen -- bey Gesunden -- bey Kranken -- bey Sterbenden -- bey Hinrichtungen -- bey gerichtlichen Untersuchun- gen -- beym Kinderunterricht -- allenthalben ist sie's mir. Ohne sie bin ich ein blinder Führer der Blinden.
Ein einziges Gesicht kann mich oft auf oder abspannen, irre machen, oder begeistern. Jch suche mir daher beym Predigen immer das edelste Gesicht aus, auf welches ich arbeiten und wirken will. Beym Kinderleh- ren das schwächste. Nur unsre Schuld ist's größtentheils, wenn uns unser Auditorium nicht stimmt; nicht den Ton von selbst uns an die Hand giebt, in dem wir reden sollen. -- Jeder Lehrer, der physiognomisches Gefühl hat, wird leicht die Hauptklassen seiner Zuhörer reihen und wissen können, was jede Classe zu fassen und nicht zu fassen im Stande ist. Man denke sich z. E. sechs bis sieben verschiedene Classen von Capazitäten -- vergegen- wärtige sich ihre Chefs -- Repräsentanten, ein charakteristisches Gesicht aus jeder Classe -- zeichne sich ihre Gesichter vor, und sage sich immer: "Dem sagst du das! dieses -- diesem! jenes jenem!" -- Für Bered- samkeit ist keine natürlichere, wirksamere, bestimmtere Triebkraft -- als Vergegenwärtigung von einigen beson- ders charakteristischen Gesichtern, deren Capazität uns beynahe mathematisch gewiß. -- Wenn ich sechs oder achte habe, so habe ich in meinem Auditorium beynah alle. Jns Blaue hinaus rufen, frommet wenig; aber aufs beste auf die Besten wirken, wer lehrt das, als Gott -- durch Physiognomik?
[Abbildung]
Viertes
X. Abſchnitt. III. Fragment.
Drittes Fragment. Ein Wort an Geiſtliche.
Bruͤder, auch ihr beduͤrfet ein gewiſſes Maaß Phyſiognomik — und, Fuͤrſten ausgenommen, vielleicht keine Menſchen ſo ſehr, wie ihr.
Jhr ſollt wiſſen, wen ihr vor euch habt — und die Geiſter ſcharf pruͤfen, um jedem das Wort der Wahrheit nach ſeinem Beduͤrfniſſe und ſeiner Faͤhigkeit recht zuzuſchneiden.
Wem iſt’s vortheilhafter als euch, den Grad der wirklichen Tugend und Tugendempfaͤnglichkeit eines jeden, der vor euch koͤmmt, beſtimmen zu koͤnnen?
Unentbehrlicher als mein Liturgienbuch iſt mir Geiſtlichen die Phyſiognomik.
Beym Lehren — beym Ermahnen — beym Troͤſten — beym Strafen — beym Pruͤfen — bey Geſunden — bey Kranken — bey Sterbenden — bey Hinrichtungen — bey gerichtlichen Unterſuchun- gen — beym Kinderunterricht — allenthalben iſt ſie’s mir. Ohne ſie bin ich ein blinder Fuͤhrer der Blinden.
Ein einziges Geſicht kann mich oft auf oder abſpannen, irre machen, oder begeiſtern. Jch ſuche mir daher beym Predigen immer das edelſte Geſicht aus, auf welches ich arbeiten und wirken will. Beym Kinderleh- ren das ſchwaͤchſte. Nur unſre Schuld iſt’s groͤßtentheils, wenn uns unſer Auditorium nicht ſtimmt; nicht den Ton von ſelbſt uns an die Hand giebt, in dem wir reden ſollen. — Jeder Lehrer, der phyſiognomiſches Gefuͤhl hat, wird leicht die Hauptklaſſen ſeiner Zuhoͤrer reihen und wiſſen koͤnnen, was jede Claſſe zu faſſen und nicht zu faſſen im Stande iſt. Man denke ſich z. E. ſechs bis ſieben verſchiedene Claſſen von Capazitaͤten — vergegen- waͤrtige ſich ihre Chefs — Repraͤſentanten, ein charakteriſtiſches Geſicht aus jeder Claſſe — zeichne ſich ihre Geſichter vor, und ſage ſich immer: „Dem ſagſt du das! dieſes — dieſem! jenes jenem!“ — Fuͤr Bered- ſamkeit iſt keine natuͤrlichere, wirkſamere, beſtimmtere Triebkraft — als Vergegenwaͤrtigung von einigen beſon- ders charakteriſtiſchen Geſichtern, deren Capazitaͤt uns beynahe mathematiſch gewiß. — Wenn ich ſechs oder achte habe, ſo habe ich in meinem Auditorium beynah alle. Jns Blaue hinaus rufen, frommet wenig; aber aufs beſte auf die Beſten wirken, wer lehrt das, als Gott — durch Phyſiognomik?
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Viertes
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X. Abſchnitt. III. Fragment.
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Ein Wort an Geiſtliche.
Bruͤder, auch ihr beduͤrfet ein gewiſſes Maaß Phyſiognomik — und, Fuͤrſten ausgenommen, vielleicht keine
Menſchen ſo ſehr, wie ihr.
Jhr ſollt wiſſen, wen ihr vor euch habt — und die Geiſter ſcharf pruͤfen, um jedem das Wort der
Wahrheit nach ſeinem Beduͤrfniſſe und ſeiner Faͤhigkeit recht zuzuſchneiden.
Wem iſt’s vortheilhafter als euch, den Grad der wirklichen Tugend und Tugendempfaͤnglichkeit eines
jeden, der vor euch koͤmmt, beſtimmen zu koͤnnen?
Unentbehrlicher als mein Liturgienbuch iſt mir Geiſtlichen die Phyſiognomik.
Beym Lehren — beym Ermahnen — beym Troͤſten — beym Strafen — beym Pruͤfen — bey
Geſunden — bey Kranken — bey Sterbenden — bey Hinrichtungen — bey gerichtlichen Unterſuchun-
gen — beym Kinderunterricht — allenthalben iſt ſie’s mir. Ohne ſie bin ich ein blinder Fuͤhrer der Blinden.
Ein einziges Geſicht kann mich oft auf oder abſpannen, irre machen, oder begeiſtern. Jch ſuche mir
daher beym Predigen immer das edelſte Geſicht aus, auf welches ich arbeiten und wirken will. Beym Kinderleh-
ren das ſchwaͤchſte. Nur unſre Schuld iſt’s groͤßtentheils, wenn uns unſer Auditorium nicht ſtimmt; nicht den
Ton von ſelbſt uns an die Hand giebt, in dem wir reden ſollen. — Jeder Lehrer, der phyſiognomiſches Gefuͤhl
hat, wird leicht die Hauptklaſſen ſeiner Zuhoͤrer reihen und wiſſen koͤnnen, was jede Claſſe zu faſſen und nicht zu
faſſen im Stande iſt. Man denke ſich z. E. ſechs bis ſieben verſchiedene Claſſen von Capazitaͤten — vergegen-
waͤrtige ſich ihre Chefs — Repraͤſentanten, ein charakteriſtiſches Geſicht aus jeder Claſſe — zeichne ſich ihre
Geſichter vor, und ſage ſich immer: „Dem ſagſt du das! dieſes — dieſem! jenes jenem!“ — Fuͤr Bered-
ſamkeit iſt keine natuͤrlichere, wirkſamere, beſtimmtere Triebkraft — als Vergegenwaͤrtigung von einigen beſon-
ders charakteriſtiſchen Geſichtern, deren Capazitaͤt uns beynahe mathematiſch gewiß. — Wenn ich ſechs oder
achte habe, ſo habe ich in meinem Auditorium beynah alle. Jns Blaue hinaus rufen, frommet wenig; aber
aufs beſte auf die Beſten wirken, wer lehrt das, als Gott — durch Phyſiognomik?
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Viertes
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/620>, abgerufen am 23.02.2025.
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