Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.X. Abschnitt. II. Fragment. Zweytes Fragment. Ein Wort an Fürsten, Richter, Verhörer. Wie gern schrieb ich ein eigen Buch für euch, wichtigste der Menschen! Wer bedarf, wie ihr, Menschenkenntniß, unabhängig von aller Cabbale, allem Einspruch des Ei- Jn eurer geheimsten Brieftasche verwahret jeden Buchstaben, jeden Charakter der Menschheit, der Fürsten -- heiligste der Menschen! zur Ehre der Menschheit -- laßt mich euch bitten -- allervörderst Und ihr, ihr Richter -- richtet freylich nicht nach dem Ansehen der Personen! aber prüft nach dem- etwas,
X. Abſchnitt. II. Fragment. Zweytes Fragment. Ein Wort an Fuͤrſten, Richter, Verhoͤrer. Wie gern ſchrieb ich ein eigen Buch fuͤr euch, wichtigſte der Menſchen! Wer bedarf, wie ihr, Menſchenkenntniß, unabhaͤngig von aller Cabbale, allem Einſpruch des Ei- Jn eurer geheimſten Brieftaſche verwahret jeden Buchſtaben, jeden Charakter der Menſchheit, der Fuͤrſten — heiligſte der Menſchen! zur Ehre der Menſchheit — laßt mich euch bitten — allervoͤrderſt Und ihr, ihr Richter — richtet freylich nicht nach dem Anſehen der Perſonen! aber pruͤft nach dem- etwas,
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X. Abſchnitt. II. Fragment.
Zweytes Fragment.
Ein Wort an Fuͤrſten, Richter, Verhoͤrer.
Wie gern ſchrieb ich ein eigen Buch fuͤr euch, wichtigſte der Menſchen!
Wer bedarf, wie ihr, Menſchenkenntniß, unabhaͤngig von aller Cabbale, allem Einſpruch des Ei-
gennutzes? Darf ich mich euren Thronen nahen, und die Bitte niederlegen —
Jn eurer geheimſten Brieftaſche verwahret jeden Buchſtaben, jeden Charakter der Menſchheit, der
durch zehn ſcharfe Pruͤfungen gereinigt und beſtimmt iſt. Nicht in der Ferne, nicht unter Fremden, unter eu-
ren Unterthanen ſucht ſie aus die weiſeſten und beſten — Wo ein weiſer und guter Fuͤrſt herrſcht, da hat es vor-
treffliche Unterthanen. Ein weiſer und guter Fuͤrſt hat Glauben an das obgleich noch verborgene Daſeyn weiſer
und guter, wenigſtens Weisheit und Guͤte faͤhiger Unterthanen. Wo Ein guter iſt, iſt ſo gewiß ein zweyter —
als gewiß weibliches Geſchlecht iſt, wo maͤnnliches iſt. Bittet nur um Weisheit, zu ſehen, was da iſt — ſo
duͤrft ihr nicht bange ſeyn, das zu ſchaffen, was nicht da iſt, und nicht geſchaffen werden kann.
Fuͤrſten — heiligſte der Menſchen! zur Ehre der Menſchheit — laßt mich euch bitten — allervoͤrderſt
noch mehr als voruͤbereilende Mienen zu ſuchen und zu ſtudieren — zu ſuchen, aber nicht zu ſchnell zu ergreifen;
was euch vortrefflich ſcheint — was der Fuͤrſt herbey winkt, iſt ſchwer ohne Gefahr wegzugebieten — aber ſeyd
ihr einmal ſicher der Weisheit und Guͤte eines Menſchen; nicht um des Zeugniſſes anderer willen, das bey-
nahe immer, beſonders den Fuͤrſten, Gutes oder Boͤſes luͤgt, ſondern um ſeines Geſichtes willen, das frey-
lich dem Fuͤrſten auch, oder vielmehr der Fuͤrſtenſchaft, aber nicht der Menſchheit des Fuͤrſten luͤgen kann; ſo
verehret in dieſem Menſchen den beſten Seegen, den ſeinen Lieblingen der Himmel auf die Erde ſenden kann.
Große Geſichter mit ſtarken, nicht mit harten Zuͤgen, mit ſanften, nicht mit weichen, mit beſtimmten, nicht mit
aͤngſtlichen, mit natuͤrlichen, nicht mit frechen — offnes Auge mit hellem Blicke — ſtarke Naſenwurzeln ſucht —
und ſtellt um euren Thron her! — Proportionirten und parallelgezeichneten Geſichtern vertraut eure Geheimniſſe
am liebſten! horizontalen, feſten, gedraͤngten Augenbraunen! geſchweiften und unhart geſchloſſenen roͤthlichten —
leicht beweglichen aber nicht ſchlaffen, welken Lippen! — Doch — ich will nicht Zeichen, nur die Bitte wieder-
holen: — Die Phyſiognomie der Guten und Weiſen ſey euch heilig um der Guͤte und Weisheit willen, und Guͤte
und Weisheit um des Siegels Gottes willen, das ſie tragen auf ihrer Stirne.
Und ihr, ihr Richter — richtet freylich nicht nach dem Anſehen der Perſonen! aber pruͤft nach dem-
ſelben — Gerechtigkeit mit verbundenen Augen — das iſt, ohne Phyſiognomik, iſt eben ſo unnatuͤrlich, als
Liebe mit verbundenen Augen. Es giebt Geſichter, die eine Menge Laſter nicht begangen haben koͤnnen. Lernt
jedes Laſters Zuͤge, lernt die Formen kennen, in denen das Laſter gern und ungern wohnet. Jedes Geſicht kann
etwas,
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