Viertes Fragment. Beylage. Anmerkungen über eine Stelle aus Büffon.
Büffon! der stärkste und schwächste Antiphysiognomist! wer muß beym ersten Anblicke stärker scheinen, als er? Er, der alles, was die Natur schönes und häßliches hat, mit so vieler Feinheit und Richtigkeit zu beobachten, und zu würdigen weiß? -- Der die Unterschiede aller Nationalgestalten und Charakter aufsucht -- Büffon, die Ehre der französischen Schriftsteller. -- Der ist Antiphysiognomist! Was kann mehr gegen die Physiognomik ge- sagt werden? Sie muß nichts seyn, wenn Büffon sie für nichts hält. -- Aber, mit Erlaubniß des unvergleichli- chen Schriftstellers, -- wenn ein Mann von seiner Einsicht, seinem Gefühle, und seiner Beredsamkeit nichts ge- gen die Physiognomik zu setzen weiß, als -- Machtsprüche -- so kann man doch wohl ohne Unbescheidenheit sagen -- "der schwächste Antiphysiognomist!" -- Doch wir wollen dieß Vorurtheil gern zurücknehmen, wenn am Ende unsere Leser nicht unserer Meynnng sind. Man lese nur:
"Wie alle Leidenschaften Bewegungen der Seele sind, die sich meistens auf die Eindrücke unserer Sinne "beziehen, so können sie durch Bewegungen des Körpers, und besonders des Gesichtes ausgedrückt werden. Man "kann aus der äußerlichen Handlung urtheilen, was innerlich vorgeht, und aus den Gesichtsveränderungen den "Zustand der Seele erkennen." Pathognomik also giebt unser Autor zu. "Wie aber," fährt er fort, "die Seele "keine Form hat, die sich auf eine materialische Form beziehen kann; so kann man sie aus der Gestalt des Kör- "pers, oder aus der Gesichtsbildung nicht beurtheilen." Mit demselben Rechte könnte man, meines Bedünkens, sagen: Wie aber die Seele keine Bewegung hat -- Bewegung in so physischem Sinn, in welchem Form phy- sisch ist, -- Bewegung, so daß sie einen Ort verläßt, und in einen andern eintritt -- so kann man sie aus der Bewegung des Körpers und der Gesichtsmuskeln nicht beurtheilen. "Ein übelgebildeter Körper," fährt Herr Büffon fort, "kann eine sehr schöne Seele enthalten." Welcher Menschenkenner und Menschenfreund wird daran zweifeln! Aber folgt daraus, daß alle Arten übelgebildeter Gesichter alle Arten von Geschicklichkeiten, Geistes- kräfte, Talente, Genie zulassen, weil es einige Arten von Mißbildungen giebt, bey denen Talente und Genie möglich sind? -- Giebt es darum keine, bey denen sie unmöglich sind? -- Jch verweise den Weisen in ein Thoren- haus -- um sich hievon zu überzeugen. So wie nicht alle schöne Gestalten weise und tugendhafte Geister zu Be- herrschern haben, so nicht alle mißgebildete, dumme und lasterhafte. -- Warum wird Herr Büffon die englische Nation für tiefsinniger halten, als die Lappen? Auch auf den bloßen, stummen, bewegungslosen Anblick? Und was würde er dem sagen, der bey diesem Anblicke neben ihm stünde, ihn auf die Achsel klopfte und sagte, was er selber weiter sagt: "Man muß aus den Gesichtszügen, nicht von der guten oder bösen Gemüthsart urtheilen, "denn diese Züge haben mit der Beschaffenheit der Seele keinen Zusammenhang, keine Aehnlichkeit, auf welche man "vernünftige Muthmaßungen gründen könnte? -- Es ist leicht zu sehen," -- (das wäre also der Grund des Räsonnements) -- "es ist leicht zu sehen, daß die Kenntniß der Physiognomik nicht weiter gehen kann, als die
Bewe-
VII. Abſchnitt. IV. Fragment.
Viertes Fragment. Beylage. Anmerkungen uͤber eine Stelle aus Buͤffon.
Buͤffon! der ſtaͤrkſte und ſchwaͤchſte Antiphyſiognomiſt! wer muß beym erſten Anblicke ſtaͤrker ſcheinen, als er? Er, der alles, was die Natur ſchoͤnes und haͤßliches hat, mit ſo vieler Feinheit und Richtigkeit zu beobachten, und zu wuͤrdigen weiß? — Der die Unterſchiede aller Nationalgeſtalten und Charakter aufſucht — Buͤffon, die Ehre der franzoͤſiſchen Schriftſteller. — Der iſt Antiphyſiognomiſt! Was kann mehr gegen die Phyſiognomik ge- ſagt werden? Sie muß nichts ſeyn, wenn Buͤffon ſie fuͤr nichts haͤlt. — Aber, mit Erlaubniß des unvergleichli- chen Schriftſtellers, — wenn ein Mann von ſeiner Einſicht, ſeinem Gefuͤhle, und ſeiner Beredſamkeit nichts ge- gen die Phyſiognomik zu ſetzen weiß, als — Machtſpruͤche — ſo kann man doch wohl ohne Unbeſcheidenheit ſagen — „der ſchwaͤchſte Antiphyſiognomiſt!“ — Doch wir wollen dieß Vorurtheil gern zuruͤcknehmen, wenn am Ende unſere Leſer nicht unſerer Meynnng ſind. Man leſe nur:
„Wie alle Leidenſchaften Bewegungen der Seele ſind, die ſich meiſtens auf die Eindruͤcke unſerer Sinne „beziehen, ſo koͤnnen ſie durch Bewegungen des Koͤrpers, und beſonders des Geſichtes ausgedruͤckt werden. Man „kann aus der aͤußerlichen Handlung urtheilen, was innerlich vorgeht, und aus den Geſichtsveraͤnderungen den „Zuſtand der Seele erkennen.“ Pathognomik alſo giebt unſer Autor zu. „Wie aber,“ faͤhrt er fort, „die Seele „keine Form hat, die ſich auf eine materialiſche Form beziehen kann; ſo kann man ſie aus der Geſtalt des Koͤr- „pers, oder aus der Geſichtsbildung nicht beurtheilen.“ Mit demſelben Rechte koͤnnte man, meines Beduͤnkens, ſagen: Wie aber die Seele keine Bewegung hat — Bewegung in ſo phyſiſchem Sinn, in welchem Form phy- ſiſch iſt, — Bewegung, ſo daß ſie einen Ort verlaͤßt, und in einen andern eintritt — ſo kann man ſie aus der Bewegung des Koͤrpers und der Geſichtsmuskeln nicht beurtheilen. „Ein uͤbelgebildeter Koͤrper,“ faͤhrt Herr Buͤffon fort, „kann eine ſehr ſchoͤne Seele enthalten.“ Welcher Menſchenkenner und Menſchenfreund wird daran zweifeln! Aber folgt daraus, daß alle Arten uͤbelgebildeter Geſichter alle Arten von Geſchicklichkeiten, Geiſtes- kraͤfte, Talente, Genie zulaſſen, weil es einige Arten von Mißbildungen giebt, bey denen Talente und Genie moͤglich ſind? — Giebt es darum keine, bey denen ſie unmoͤglich ſind? — Jch verweiſe den Weiſen in ein Thoren- haus — um ſich hievon zu uͤberzeugen. So wie nicht alle ſchoͤne Geſtalten weiſe und tugendhafte Geiſter zu Be- herrſchern haben, ſo nicht alle mißgebildete, dumme und laſterhafte. — Warum wird Herr Buͤffon die engliſche Nation fuͤr tiefſinniger halten, als die Lappen? Auch auf den bloßen, ſtummen, bewegungsloſen Anblick? Und was wuͤrde er dem ſagen, der bey dieſem Anblicke neben ihm ſtuͤnde, ihn auf die Achſel klopfte und ſagte, was er ſelber weiter ſagt: „Man muß aus den Geſichtszuͤgen, nicht von der guten oder boͤſen Gemuͤthsart urtheilen, „denn dieſe Zuͤge haben mit der Beſchaffenheit der Seele keinen Zuſammenhang, keine Aehnlichkeit, auf welche man „vernuͤnftige Muthmaßungen gruͤnden koͤnnte? — Es iſt leicht zu ſehen,“ — (das waͤre alſo der Grund des Raͤſonnements) — „es iſt leicht zu ſehen, daß die Kenntniß der Phyſiognomik nicht weiter gehen kann, als die
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VII. Abſchnitt. IV. Fragment.
Viertes Fragment.
Beylage. Anmerkungen uͤber eine Stelle aus Buͤffon.
Buͤffon! der ſtaͤrkſte und ſchwaͤchſte Antiphyſiognomiſt! wer muß beym erſten Anblicke ſtaͤrker ſcheinen, als er?
Er, der alles, was die Natur ſchoͤnes und haͤßliches hat, mit ſo vieler Feinheit und Richtigkeit zu beobachten,
und zu wuͤrdigen weiß? — Der die Unterſchiede aller Nationalgeſtalten und Charakter aufſucht — Buͤffon, die
Ehre der franzoͤſiſchen Schriftſteller. — Der iſt Antiphyſiognomiſt! Was kann mehr gegen die Phyſiognomik ge-
ſagt werden? Sie muß nichts ſeyn, wenn Buͤffon ſie fuͤr nichts haͤlt. — Aber, mit Erlaubniß des unvergleichli-
chen Schriftſtellers, — wenn ein Mann von ſeiner Einſicht, ſeinem Gefuͤhle, und ſeiner Beredſamkeit nichts ge-
gen die Phyſiognomik zu ſetzen weiß, als — Machtſpruͤche — ſo kann man doch wohl ohne Unbeſcheidenheit
ſagen — „der ſchwaͤchſte Antiphyſiognomiſt!“ — Doch wir wollen dieß Vorurtheil gern zuruͤcknehmen, wenn
am Ende unſere Leſer nicht unſerer Meynnng ſind. Man leſe nur:
„Wie alle Leidenſchaften Bewegungen der Seele ſind, die ſich meiſtens auf die Eindruͤcke unſerer Sinne
„beziehen, ſo koͤnnen ſie durch Bewegungen des Koͤrpers, und beſonders des Geſichtes ausgedruͤckt werden. Man
„kann aus der aͤußerlichen Handlung urtheilen, was innerlich vorgeht, und aus den Geſichtsveraͤnderungen den
„Zuſtand der Seele erkennen.“ Pathognomik alſo giebt unſer Autor zu. „Wie aber,“ faͤhrt er fort, „die Seele
„keine Form hat, die ſich auf eine materialiſche Form beziehen kann; ſo kann man ſie aus der Geſtalt des Koͤr-
„pers, oder aus der Geſichtsbildung nicht beurtheilen.“ Mit demſelben Rechte koͤnnte man, meines Beduͤnkens,
ſagen: Wie aber die Seele keine Bewegung hat — Bewegung in ſo phyſiſchem Sinn, in welchem Form phy-
ſiſch iſt, — Bewegung, ſo daß ſie einen Ort verlaͤßt, und in einen andern eintritt — ſo kann man ſie aus der
Bewegung des Koͤrpers und der Geſichtsmuskeln nicht beurtheilen. „Ein uͤbelgebildeter Koͤrper,“ faͤhrt Herr
Buͤffon fort, „kann eine ſehr ſchoͤne Seele enthalten.“ Welcher Menſchenkenner und Menſchenfreund wird daran
zweifeln! Aber folgt daraus, daß alle Arten uͤbelgebildeter Geſichter alle Arten von Geſchicklichkeiten, Geiſtes-
kraͤfte, Talente, Genie zulaſſen, weil es einige Arten von Mißbildungen giebt, bey denen Talente und Genie
moͤglich ſind? — Giebt es darum keine, bey denen ſie unmoͤglich ſind? — Jch verweiſe den Weiſen in ein Thoren-
haus — um ſich hievon zu uͤberzeugen. So wie nicht alle ſchoͤne Geſtalten weiſe und tugendhafte Geiſter zu Be-
herrſchern haben, ſo nicht alle mißgebildete, dumme und laſterhafte. — Warum wird Herr Buͤffon die engliſche
Nation fuͤr tiefſinniger halten, als die Lappen? Auch auf den bloßen, ſtummen, bewegungsloſen Anblick? Und
was wuͤrde er dem ſagen, der bey dieſem Anblicke neben ihm ſtuͤnde, ihn auf die Achſel klopfte und ſagte, was er
ſelber weiter ſagt: „Man muß aus den Geſichtszuͤgen, nicht von der guten oder boͤſen Gemuͤthsart urtheilen,
„denn dieſe Zuͤge haben mit der Beſchaffenheit der Seele keinen Zuſammenhang, keine Aehnlichkeit, auf welche man
„vernuͤnftige Muthmaßungen gruͤnden koͤnnte? — Es iſt leicht zu ſehen,“ — (das waͤre alſo der Grund des
Raͤſonnements) — „es iſt leicht zu ſehen, daß die Kenntniß der Phyſiognomik nicht weiter gehen kann, als die
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/470>, abgerufen am 17.11.2024.
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