habe sie bey erwachsenen nie anders, als bey guten, feinen, reinlichen, liebreichen, treuen Men- schen gefunden.
Aber sehr oft auch bey denselben Charaktern unreinliche, unebene, häßliche Zähne.
Jmmer aber ward entweder Krankheit, oder irgend ein Beysatz von Unvollkommenheit Ursache des widrigen Eindrucks, den dieser Anblick machte.
Wer seine Zähne unreinlich läßt, sie nicht zu reinigen versucht -- wahrlich der verräth durch diese einzige Nachläßigkeit schon sehr vieles von seinem Charakter, das ihm nicht Ehre macht.
Wie die Zähne des Menschen, das heißt, ihre Gestalt, Lage, Reinheit, (insofern die- se von ihm abhängt) so sein Geschmack.
Wo viel Zahnfleisch an der obern Reihe von Zähnen beym ersten Oeffnen der Lippen sicht- bar wird, ist gemeiniglich viel Kälte und Phlegma.
Nur von den Zähnen (die doch beynahe in allen historischen Gemählden überall entweder vernachläßiget sind, oder mangeln) ließe sich leicht ein Quartband schreiben. Man darf nur einen einzigen Tag bloß auf die Zähne der Menschen besonders sein Augenmerk richten -- nur ein Zim- mer voll Thoren von dieser Seite betrachten -- so wird man keinen Augenblick anstehen, daß die Zähne nicht nur in Verbindung mit den Lippen, sondern an sich betrachtet, sehr charakteristisch sind -- und wiederum ein physiognomischer Theil -- der über alle Verstellungskunst sieget.
Achtes Fragment. Kinn.
Aus vielfältiger Erfahrung bin ich gewiß, daß vorstehendes Kinn immer etwas positives, zu- rückstehendes immer was negatives anzeigt.
Oft sitzt der Charakter der Kraft oder Unkraft eines Menschen bloß im Kinne.
Scharfe Einschnitte mitten am Kinne habe ich nirgends, als bey kalten, verständigen Men- schen gesehen -- woferne nichts widersprechendes im Gesichte war.
Ein spitzes Kinn wird allgemein für ein Zeichen feiner List gehalten. Doch kenne ich höchst redliche Seelen mit spitzem Kinne. Jhre List ist List der feinsten dramatischen Güte.
Ein
Zaͤhne.
habe ſie bey erwachſenen nie anders, als bey guten, feinen, reinlichen, liebreichen, treuen Men- ſchen gefunden.
Aber ſehr oft auch bey denſelben Charaktern unreinliche, unebene, haͤßliche Zaͤhne.
Jmmer aber ward entweder Krankheit, oder irgend ein Beyſatz von Unvollkommenheit Urſache des widrigen Eindrucks, den dieſer Anblick machte.
Wer ſeine Zaͤhne unreinlich laͤßt, ſie nicht zu reinigen verſucht — wahrlich der verraͤth durch dieſe einzige Nachlaͤßigkeit ſchon ſehr vieles von ſeinem Charakter, das ihm nicht Ehre macht.
Wie die Zaͤhne des Menſchen, das heißt, ihre Geſtalt, Lage, Reinheit, (inſofern die- ſe von ihm abhaͤngt) ſo ſein Geſchmack.
Wo viel Zahnfleiſch an der obern Reihe von Zaͤhnen beym erſten Oeffnen der Lippen ſicht- bar wird, iſt gemeiniglich viel Kaͤlte und Phlegma.
Nur von den Zaͤhnen (die doch beynahe in allen hiſtoriſchen Gemaͤhlden uͤberall entweder vernachlaͤßiget ſind, oder mangeln) ließe ſich leicht ein Quartband ſchreiben. Man darf nur einen einzigen Tag bloß auf die Zaͤhne der Menſchen beſonders ſein Augenmerk richten — nur ein Zim- mer voll Thoren von dieſer Seite betrachten — ſo wird man keinen Augenblick anſtehen, daß die Zaͤhne nicht nur in Verbindung mit den Lippen, ſondern an ſich betrachtet, ſehr charakteriſtiſch ſind — und wiederum ein phyſiognomiſcher Theil — der uͤber alle Verſtellungskunſt ſieget.
Achtes Fragment. Kinn.
Aus vielfaͤltiger Erfahrung bin ich gewiß, daß vorſtehendes Kinn immer etwas poſitives, zu- ruͤckſtehendes immer was negatives anzeigt.
Oft ſitzt der Charakter der Kraft oder Unkraft eines Menſchen bloß im Kinne.
Scharfe Einſchnitte mitten am Kinne habe ich nirgends, als bey kalten, verſtaͤndigen Men- ſchen geſehen — woferne nichts widerſprechendes im Geſichte war.
Ein ſpitzes Kinn wird allgemein fuͤr ein Zeichen feiner Liſt gehalten. Doch kenne ich hoͤchſt redliche Seelen mit ſpitzem Kinne. Jhre Liſt iſt Liſt der feinſten dramatiſchen Guͤte.
Ein
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Zaͤhne.
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Aber ſehr oft auch bey denſelben Charaktern unreinliche, unebene, haͤßliche Zaͤhne.
Jmmer aber ward entweder Krankheit, oder irgend ein Beyſatz von Unvollkommenheit
Urſache des widrigen Eindrucks, den dieſer Anblick machte.
Wer ſeine Zaͤhne unreinlich laͤßt, ſie nicht zu reinigen verſucht — wahrlich der verraͤth durch
dieſe einzige Nachlaͤßigkeit ſchon ſehr vieles von ſeinem Charakter, das ihm nicht Ehre macht.
Wie die Zaͤhne des Menſchen, das heißt, ihre Geſtalt, Lage, Reinheit, (inſofern die-
ſe von ihm abhaͤngt) ſo ſein Geſchmack.
Wo viel Zahnfleiſch an der obern Reihe von Zaͤhnen beym erſten Oeffnen der Lippen ſicht-
bar wird, iſt gemeiniglich viel Kaͤlte und Phlegma.
Nur von den Zaͤhnen (die doch beynahe in allen hiſtoriſchen Gemaͤhlden uͤberall entweder
vernachlaͤßiget ſind, oder mangeln) ließe ſich leicht ein Quartband ſchreiben. Man darf nur einen
einzigen Tag bloß auf die Zaͤhne der Menſchen beſonders ſein Augenmerk richten — nur ein Zim-
mer voll Thoren von dieſer Seite betrachten — ſo wird man keinen Augenblick anſtehen, daß die
Zaͤhne nicht nur in Verbindung mit den Lippen, ſondern an ſich betrachtet, ſehr charakteriſtiſch
ſind — und wiederum ein phyſiognomiſcher Theil — der uͤber alle Verſtellungskunſt ſieget.
Achtes Fragment.
Kinn.
Aus vielfaͤltiger Erfahrung bin ich gewiß, daß vorſtehendes Kinn immer etwas poſitives, zu-
ruͤckſtehendes immer was negatives anzeigt.
Oft ſitzt der Charakter der Kraft oder Unkraft eines Menſchen bloß im Kinne.
Scharfe Einſchnitte mitten am Kinne habe ich nirgends, als bey kalten, verſtaͤndigen Men-
ſchen geſehen — woferne nichts widerſprechendes im Geſichte war.
Ein ſpitzes Kinn wird allgemein fuͤr ein Zeichen feiner Liſt gehalten. Doch kenne ich hoͤchſt
redliche Seelen mit ſpitzem Kinne. Jhre Liſt iſt Liſt der feinſten dramatiſchen Guͤte.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/303>, abgerufen am 23.02.2025.
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