Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

III. Abschnitt. VII. Fragment.
Veränderungen, die von der Beschaffenheit der Lunge herrühren. Der von langer Statur und platter Brust
wird schwache Stimme haben, der Krankheiten nicht zu gedenken.

Auf diesen Gedanken, der schwerer auszuführen als zu erfinden ist, hat mich die unzählige Art ja und
nein auszusprechen, gebracht.

So vielerley Anlässe es giebt, eines von diesen zu sagen, z. B. Versicherung, Entscheidung, Freude, Angst,
Scherz, Spott, und so mehr; so vielerley Ton kann auch der nämliche Mensch seinem Worte geben. Und den-
noch hat bey gleichem Anlaß jeder Mensch seine eigene Art, die mit seinem Charakter zusammenstimmt, offen
oder zurückhaltend, ernstlich oder leichtsinnig, theilnehmend oder kalt, mürrisch oder leutselig, entschlossen oder
zaudernd -- ja, nein, oder sonst etwas zu sagen. Welch ein Unterschied für die Gesellschafter, und welch weite
Ritze ins Jnnerste der Seele!

Vermöge der Erfahrung, daß unter gewissen Umständen auch der Denker leerköpfig, der Beherzte
verlegen, der Sanstmüthige unwillig, der Heitere mißvergnügt aussehen kann; ließe sich durch Hülfe dieser
zufälligen Züge von jeder Bewegung ein Jdeal erfinden, und dieß wäre ein würdiger Anhang und die höchste
Stufe der Physiognomik.

Siebentes Fragment.
Vermischte Stellen.
1.
Campanella.
*)

Der hatte nicht nur sehr genaue Beobachtungen über die menschlichen Gesichtszüge gemacht, sondern er be-
saß auch in einem hohen Grade die Kunst, die merklichsten nachzumachen. Wenn er Lust hatte, die Neigung
derer, mit welchen er umgieng, zu erforschen, so nahm er, so genau als er konnte, das Gesicht, die Gebärden,
die ganze Stellung der Personen an, welche er untersuchte, und dann gab er genau acht, in was für eine Ge-
müthsverfassung er durch diese Aenderung gesetzt wurde. Auf diese Weise war er im Stande, so vollkommen
(oder besser, einigermaßen) in die Gesinnungen und Gedanken des andern einzudringen, als wenn er sich
in die Person desselben verwandelt hätte. So viel habe ich selbst oft erfahren, daß, wenn ich die Mienen und
Gebärden eines zornigen, sanftmüthigen, kühnen und furchtsamen Menschen nachmache, ich in mir einen ganz

unwill-
*) Burke's philos. Untersuchung übers Erhabene und Schöne. S. 216. 218.

III. Abſchnitt. VII. Fragment.
Veraͤnderungen, die von der Beſchaffenheit der Lunge herruͤhren. Der von langer Statur und platter Bruſt
wird ſchwache Stimme haben, der Krankheiten nicht zu gedenken.

Auf dieſen Gedanken, der ſchwerer auszufuͤhren als zu erfinden iſt, hat mich die unzaͤhlige Art ja und
nein auszuſprechen, gebracht.

So vielerley Anlaͤſſe es giebt, eines von dieſen zu ſagen, z. B. Verſicherung, Entſcheidung, Freude, Angſt,
Scherz, Spott, und ſo mehr; ſo vielerley Ton kann auch der naͤmliche Menſch ſeinem Worte geben. Und den-
noch hat bey gleichem Anlaß jeder Menſch ſeine eigene Art, die mit ſeinem Charakter zuſammenſtimmt, offen
oder zuruͤckhaltend, ernſtlich oder leichtſinnig, theilnehmend oder kalt, muͤrriſch oder leutſelig, entſchloſſen oder
zaudernd — ja, nein, oder ſonſt etwas zu ſagen. Welch ein Unterſchied fuͤr die Geſellſchafter, und welch weite
Ritze ins Jnnerſte der Seele!

Vermoͤge der Erfahrung, daß unter gewiſſen Umſtaͤnden auch der Denker leerkoͤpfig, der Beherzte
verlegen, der Sanſtmuͤthige unwillig, der Heitere mißvergnuͤgt ausſehen kann; ließe ſich durch Huͤlfe dieſer
zufaͤlligen Zuͤge von jeder Bewegung ein Jdeal erfinden, und dieß waͤre ein wuͤrdiger Anhang und die hoͤchſte
Stufe der Phyſiognomik.

Siebentes Fragment.
Vermiſchte Stellen.
1.
Campanella.
*)

Der hatte nicht nur ſehr genaue Beobachtungen uͤber die menſchlichen Geſichtszuͤge gemacht, ſondern er be-
ſaß auch in einem hohen Grade die Kunſt, die merklichſten nachzumachen. Wenn er Luſt hatte, die Neigung
derer, mit welchen er umgieng, zu erforſchen, ſo nahm er, ſo genau als er konnte, das Geſicht, die Gebaͤrden,
die ganze Stellung der Perſonen an, welche er unterſuchte, und dann gab er genau acht, in was fuͤr eine Ge-
muͤthsverfaſſung er durch dieſe Aenderung geſetzt wurde. Auf dieſe Weiſe war er im Stande, ſo vollkommen
(oder beſſer, einigermaßen) in die Geſinnungen und Gedanken des andern einzudringen, als wenn er ſich
in die Perſon deſſelben verwandelt haͤtte. So viel habe ich ſelbſt oft erfahren, daß, wenn ich die Mienen und
Gebaͤrden eines zornigen, ſanftmuͤthigen, kuͤhnen und furchtſamen Menſchen nachmache, ich in mir einen ganz

unwill-
*) Burke’s philoſ. Unterſuchung uͤbers Erhabene und Schoͤne. S. 216. 218.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0222" n="192"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">III.</hi> Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">VII.</hi> Fragment.</hi></fw><lb/>
Vera&#x0364;nderungen, die von der Be&#x017F;chaffenheit der Lunge herru&#x0364;hren. Der von langer Statur und platter Bru&#x017F;t<lb/>
wird &#x017F;chwache Stimme haben, der Krankheiten nicht zu gedenken.</p><lb/>
            <p>Auf die&#x017F;en Gedanken, der &#x017F;chwerer auszufu&#x0364;hren als zu erfinden i&#x017F;t, hat mich die unza&#x0364;hlige Art ja und<lb/><hi rendition="#fr">nein</hi> auszu&#x017F;prechen, gebracht.</p><lb/>
            <p>So vielerley Anla&#x0364;&#x017F;&#x017F;e es giebt, eines von die&#x017F;en zu &#x017F;agen, z. B. Ver&#x017F;icherung, Ent&#x017F;cheidung, Freude, Ang&#x017F;t,<lb/>
Scherz, Spott, und &#x017F;o mehr; &#x017F;o vielerley Ton kann auch der na&#x0364;mliche Men&#x017F;ch &#x017F;einem Worte geben. Und den-<lb/>
noch hat bey gleichem Anlaß jeder Men&#x017F;ch &#x017F;eine eigene Art, die mit &#x017F;einem Charakter zu&#x017F;ammen&#x017F;timmt, offen<lb/>
oder zuru&#x0364;ckhaltend, ern&#x017F;tlich oder leicht&#x017F;innig, theilnehmend oder kalt, mu&#x0364;rri&#x017F;ch oder leut&#x017F;elig, ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en oder<lb/>
zaudernd &#x2014; ja, nein, oder &#x017F;on&#x017F;t etwas zu &#x017F;agen. Welch ein Unter&#x017F;chied fu&#x0364;r die Ge&#x017F;ell&#x017F;chafter, und welch weite<lb/>
Ritze ins Jnner&#x017F;te der Seele!</p><lb/>
            <p>Vermo&#x0364;ge der Erfahrung, daß unter gewi&#x017F;&#x017F;en Um&#x017F;ta&#x0364;nden auch der Denker leerko&#x0364;pfig, der Beherzte<lb/>
verlegen, der San&#x017F;tmu&#x0364;thige unwillig, der Heitere mißvergnu&#x0364;gt aus&#x017F;ehen kann; ließe &#x017F;ich durch Hu&#x0364;lfe die&#x017F;er<lb/>
zufa&#x0364;lligen Zu&#x0364;ge von jeder Bewegung ein Jdeal erfinden, und dieß wa&#x0364;re ein wu&#x0364;rdiger Anhang und die ho&#x0364;ch&#x017F;te<lb/>
Stufe der Phy&#x017F;iognomik.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Siebentes Fragment.</hi><lb/>
Vermi&#x017F;chte Stellen.</hi> </head><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b">1.<lb/><hi rendition="#g">Campanella.</hi></hi> <note place="foot" n="*)">Burke&#x2019;s philo&#x017F;. Unter&#x017F;uchung u&#x0364;bers Erhabene und Scho&#x0364;ne. S. 216. 218.</note>
              </head><lb/>
              <p><hi rendition="#in">D</hi>er hatte nicht nur &#x017F;ehr genaue Beobachtungen u&#x0364;ber die men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;ichtszu&#x0364;ge gemacht, &#x017F;ondern er be-<lb/>
&#x017F;aß auch in einem hohen Grade die Kun&#x017F;t, die merklich&#x017F;ten nachzumachen. Wenn er Lu&#x017F;t hatte, die Neigung<lb/>
derer, mit welchen er umgieng, zu erfor&#x017F;chen, &#x017F;o nahm er, &#x017F;o genau als er konnte, das Ge&#x017F;icht, die Geba&#x0364;rden,<lb/>
die ganze Stellung der Per&#x017F;onen an, welche er unter&#x017F;uchte, und dann gab er genau acht, in was fu&#x0364;r eine Ge-<lb/>
mu&#x0364;thsverfa&#x017F;&#x017F;ung er durch die&#x017F;e Aenderung ge&#x017F;etzt wurde. Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e war er im Stande, &#x017F;o vollkommen<lb/>
(oder be&#x017F;&#x017F;er, <hi rendition="#fr">einigermaßen</hi>) in die Ge&#x017F;innungen und Gedanken des andern einzudringen, als wenn er &#x017F;ich<lb/>
in die Per&#x017F;on de&#x017F;&#x017F;elben verwandelt ha&#x0364;tte. So viel habe ich &#x017F;elb&#x017F;t oft erfahren, daß, wenn ich die Mienen und<lb/>
Geba&#x0364;rden eines zornigen, &#x017F;anftmu&#x0364;thigen, ku&#x0364;hnen und furcht&#x017F;amen Men&#x017F;chen nachmache, ich in mir einen ganz<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">unwill-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0222] III. Abſchnitt. VII. Fragment. Veraͤnderungen, die von der Beſchaffenheit der Lunge herruͤhren. Der von langer Statur und platter Bruſt wird ſchwache Stimme haben, der Krankheiten nicht zu gedenken. Auf dieſen Gedanken, der ſchwerer auszufuͤhren als zu erfinden iſt, hat mich die unzaͤhlige Art ja und nein auszuſprechen, gebracht. So vielerley Anlaͤſſe es giebt, eines von dieſen zu ſagen, z. B. Verſicherung, Entſcheidung, Freude, Angſt, Scherz, Spott, und ſo mehr; ſo vielerley Ton kann auch der naͤmliche Menſch ſeinem Worte geben. Und den- noch hat bey gleichem Anlaß jeder Menſch ſeine eigene Art, die mit ſeinem Charakter zuſammenſtimmt, offen oder zuruͤckhaltend, ernſtlich oder leichtſinnig, theilnehmend oder kalt, muͤrriſch oder leutſelig, entſchloſſen oder zaudernd — ja, nein, oder ſonſt etwas zu ſagen. Welch ein Unterſchied fuͤr die Geſellſchafter, und welch weite Ritze ins Jnnerſte der Seele! Vermoͤge der Erfahrung, daß unter gewiſſen Umſtaͤnden auch der Denker leerkoͤpfig, der Beherzte verlegen, der Sanſtmuͤthige unwillig, der Heitere mißvergnuͤgt ausſehen kann; ließe ſich durch Huͤlfe dieſer zufaͤlligen Zuͤge von jeder Bewegung ein Jdeal erfinden, und dieß waͤre ein wuͤrdiger Anhang und die hoͤchſte Stufe der Phyſiognomik. Siebentes Fragment. Vermiſchte Stellen. 1. Campanella. *) Der hatte nicht nur ſehr genaue Beobachtungen uͤber die menſchlichen Geſichtszuͤge gemacht, ſondern er be- ſaß auch in einem hohen Grade die Kunſt, die merklichſten nachzumachen. Wenn er Luſt hatte, die Neigung derer, mit welchen er umgieng, zu erforſchen, ſo nahm er, ſo genau als er konnte, das Geſicht, die Gebaͤrden, die ganze Stellung der Perſonen an, welche er unterſuchte, und dann gab er genau acht, in was fuͤr eine Ge- muͤthsverfaſſung er durch dieſe Aenderung geſetzt wurde. Auf dieſe Weiſe war er im Stande, ſo vollkommen (oder beſſer, einigermaßen) in die Geſinnungen und Gedanken des andern einzudringen, als wenn er ſich in die Perſon deſſelben verwandelt haͤtte. So viel habe ich ſelbſt oft erfahren, daß, wenn ich die Mienen und Gebaͤrden eines zornigen, ſanftmuͤthigen, kuͤhnen und furchtſamen Menſchen nachmache, ich in mir einen ganz unwill- *) Burke’s philoſ. Unterſuchung uͤbers Erhabene und Schoͤne. S. 216. 218.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/222
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/222>, abgerufen am 17.11.2024.