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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Sechstes Fragment.
An physiognomische Schriftsteller.

Sprecht vor allen Dingen keinem einzigen physiognomischen und antiphysiognomischen Schrift-
steller nichts nach, was ihr nicht selber gesehen habt!

Lieber wenig reinwahres, ganz, und von allen Seiten oft beobachtetes -- als vieles --
nachgesprochenes, nachgeschriebenes, halbgesehenes.

Bestimmtheit in Zeichnungen und in Ausdrücken -- sey euer tägliches Studium!
Schreibt und zeichnet eher hart, als unbestimmt! am liebsten so bestimmt und so unhart,
wie die Natur!

Keiner nehme sich vor, eine vollständige Physiognomik zu schreiben.

Vertheilt euch in verschiedene Felder. Es sind der Felder so viel. Wer alles bear-
beiten will, bearbeitet nichts. Jch habe unzählige Felder unbearbeitet gelassen, und in den mei-
sten nur einige Furchen gepflügt, um zu zeigen, wie ich glaube, daß dieß oder jenes gepflügt
werden sollte.

Jhr seyd für die ächte Physiognomik verdorben und verloren -- wenn ihr nicht vom
kleinsten Detail anfangt; nicht das Ganze immer ins Detail auflöset, und nicht das Detail
wieder ins Ganze zusammensetzt: Nur vom Ganzen reden, und nur vom Detail -- heißt
vergessen, daß alles Ganze der Natur das kleinste Detail ist, und alles Detail Faden zum Ge-
webe des Ganzen.

Eine eurer Hauptsorgen sey, für die zu bezeichnenden Geistigkeiten alle erst besondere
Namen zu finden -- dann werdet ihr lernen und lehren. Wie unzählige Arten von Verstan-
desfähigkeiten z. E. giebt's? Wie wenig ist gesagt, wenn man bloß sagt: "viel oder wenig
"Verstand" -- Erst alle mögliche Arten des Verstandes also -- und so der Güte, der Stärke,
der Kraft, der Leidsamkeit u. s. w. Alle Nüancen mit unterscheidenden Wörtern bezeichnen ge-
lernt -- allenfalls numerirt -- und dann eure Menschen, eure Gesichter darnach geprüft. Jn
dieser Absicht wird es dann wohl unentbehrlich nöthig seyn, eine Zeitlang beynahe jeden euch

vorkom-
X 2
Sechstes Fragment.
An phyſiognomiſche Schriftſteller.

Sprecht vor allen Dingen keinem einzigen phyſiognomiſchen und antiphyſiognomiſchen Schrift-
ſteller nichts nach, was ihr nicht ſelber geſehen habt!

Lieber wenig reinwahres, ganz, und von allen Seiten oft beobachtetes — als vieles —
nachgeſprochenes, nachgeſchriebenes, halbgeſehenes.

Beſtimmtheit in Zeichnungen und in Ausdruͤcken — ſey euer taͤgliches Studium!
Schreibt und zeichnet eher hart, als unbeſtimmt! am liebſten ſo beſtimmt und ſo unhart,
wie die Natur!

Keiner nehme ſich vor, eine vollſtaͤndige Phyſiognomik zu ſchreiben.

Vertheilt euch in verſchiedene Felder. Es ſind der Felder ſo viel. Wer alles bear-
beiten will, bearbeitet nichts. Jch habe unzaͤhlige Felder unbearbeitet gelaſſen, und in den mei-
ſten nur einige Furchen gepfluͤgt, um zu zeigen, wie ich glaube, daß dieß oder jenes gepfluͤgt
werden ſollte.

Jhr ſeyd fuͤr die aͤchte Phyſiognomik verdorben und verloren — wenn ihr nicht vom
kleinſten Detail anfangt; nicht das Ganze immer ins Detail aufloͤſet, und nicht das Detail
wieder ins Ganze zuſammenſetzt: Nur vom Ganzen reden, und nur vom Detail — heißt
vergeſſen, daß alles Ganze der Natur das kleinſte Detail iſt, und alles Detail Faden zum Ge-
webe des Ganzen.

Eine eurer Hauptſorgen ſey, fuͤr die zu bezeichnenden Geiſtigkeiten alle erſt beſondere
Namen zu finden — dann werdet ihr lernen und lehren. Wie unzaͤhlige Arten von Verſtan-
desfaͤhigkeiten z. E. giebt’s? Wie wenig iſt geſagt, wenn man bloß ſagt: „viel oder wenig
„Verſtand“ — Erſt alle moͤgliche Arten des Verſtandes alſo — und ſo der Guͤte, der Staͤrke,
der Kraft, der Leidſamkeit u. ſ. w. Alle Nuͤançen mit unterſcheidenden Woͤrtern bezeichnen ge-
lernt — allenfalls numerirt — und dann eure Menſchen, eure Geſichter darnach gepruͤft. Jn
dieſer Abſicht wird es dann wohl unentbehrlich noͤthig ſeyn, eine Zeitlang beynahe jeden euch

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[163/0193] Sechstes Fragment. An phyſiognomiſche Schriftſteller. Sprecht vor allen Dingen keinem einzigen phyſiognomiſchen und antiphyſiognomiſchen Schrift- ſteller nichts nach, was ihr nicht ſelber geſehen habt! Lieber wenig reinwahres, ganz, und von allen Seiten oft beobachtetes — als vieles — nachgeſprochenes, nachgeſchriebenes, halbgeſehenes. Beſtimmtheit in Zeichnungen und in Ausdruͤcken — ſey euer taͤgliches Studium! Schreibt und zeichnet eher hart, als unbeſtimmt! am liebſten ſo beſtimmt und ſo unhart, wie die Natur! Keiner nehme ſich vor, eine vollſtaͤndige Phyſiognomik zu ſchreiben. Vertheilt euch in verſchiedene Felder. Es ſind der Felder ſo viel. Wer alles bear- beiten will, bearbeitet nichts. Jch habe unzaͤhlige Felder unbearbeitet gelaſſen, und in den mei- ſten nur einige Furchen gepfluͤgt, um zu zeigen, wie ich glaube, daß dieß oder jenes gepfluͤgt werden ſollte. Jhr ſeyd fuͤr die aͤchte Phyſiognomik verdorben und verloren — wenn ihr nicht vom kleinſten Detail anfangt; nicht das Ganze immer ins Detail aufloͤſet, und nicht das Detail wieder ins Ganze zuſammenſetzt: Nur vom Ganzen reden, und nur vom Detail — heißt vergeſſen, daß alles Ganze der Natur das kleinſte Detail iſt, und alles Detail Faden zum Ge- webe des Ganzen. Eine eurer Hauptſorgen ſey, fuͤr die zu bezeichnenden Geiſtigkeiten alle erſt beſondere Namen zu finden — dann werdet ihr lernen und lehren. Wie unzaͤhlige Arten von Verſtan- desfaͤhigkeiten z. E. giebt’s? Wie wenig iſt geſagt, wenn man bloß ſagt: „viel oder wenig „Verſtand“ — Erſt alle moͤgliche Arten des Verſtandes alſo — und ſo der Guͤte, der Staͤrke, der Kraft, der Leidſamkeit u. ſ. w. Alle Nuͤançen mit unterſcheidenden Woͤrtern bezeichnen ge- lernt — allenfalls numerirt — und dann eure Menſchen, eure Geſichter darnach gepruͤft. Jn dieſer Abſicht wird es dann wohl unentbehrlich noͤthig ſeyn, eine Zeitlang beynahe jeden euch vorkom- X 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/193>, abgerufen am 17.11.2024.