des Genies.) "Diese Gemüthsverfassung giebt dem ganzen Charakter einen Anstrich, wodurch er "mehr ernsthaft als heiter; mehr tiefsinnig als leichtsinnig wird. Sympathie ist die unzertrennliche "Gefährtinn des Genies."
Jch thue hinzu -- Sympathie -- wo nicht das Wesen des Genies, Genie selbst; doch Quelle des Genies!
Zweyte Zugabe. Vermischte Gedanken über Genie, Geniesprache, Menschengestalt. Aus einem apokryphischen Buche. 1761. Altona. Ohne Anmerkungen.
1.
Wie der Mensch nach der Gleichheit Gottes erschaffen worden, so scheint der Leib eine Figur oder Bild der Seele zu seyn.
2.
Gewisse Schriftsteller müssen währender Zeit sich nicht schämen, die Dichtersprache, so gut sie können, nachzulallen, die am Hofe des Gottes zu Delphos eingeführt war, nach dem bekannten Sprüchwort --
Oute legei, oute kruptei, alla semainei.
3.
Nichts ist also mehr übrig, als die Gränzstreitigkeiten des Genies mit der Tollheit zu un- tersuchen -- Das größte Schisma (Joh. X. 20.) hierinn ist unter den Juden gewesen über den Vortrag eines Propheten aus ihren Brüdern. Einige sagten: DAIMONION ekhei kai MAINETAI, und sahen die Manie gleichfalls für die Wirkungen eines Genies an, ja wunderten sich gar, daß es Menschen von gesundem Bauernverstande möglich wäre, ihm zuzuhören. Auch Festus urtheilte, daß die viele Belesenheit den Paulus verwirrt gemacht, und gab seinen fanatischen Schwindel den Büchern Schuld.
Die Beobachtung ist noch älter, daß alle Meister, die sich in der Philosophie, Politik, Poe- sie und Technik hervorgethan, Jnvaliden gewesen.
Da
I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. II. Zugabe.
des Genies.) „Dieſe Gemuͤthsverfaſſung giebt dem ganzen Charakter einen Anſtrich, wodurch er „mehr ernſthaft als heiter; mehr tiefſinnig als leichtſinnig wird. Sympathie iſt die unzertrennliche „Gefaͤhrtinn des Genies.“
Jch thue hinzu — Sympathie — wo nicht das Weſen des Genies, Genie ſelbſt; doch Quelle des Genies!
Zweyte Zugabe. Vermiſchte Gedanken uͤber Genie, Genieſprache, Menſchengeſtalt. Aus einem apokryphiſchen Buche. 1761. Altona. Ohne Anmerkungen.
1.
Wie der Menſch nach der Gleichheit Gottes erſchaffen worden, ſo ſcheint der Leib eine Figur oder Bild der Seele zu ſeyn.
2.
Gewiſſe Schriftſteller muͤſſen waͤhrender Zeit ſich nicht ſchaͤmen, die Dichterſprache, ſo gut ſie koͤnnen, nachzulallen, die am Hofe des Gottes zu Delphos eingefuͤhrt war, nach dem bekannten Spruͤchwort —
Ουτε λεγει, ουτε κϱυπτει, αλλα σημαινει.
3.
Nichts iſt alſo mehr uͤbrig, als die Graͤnzſtreitigkeiten des Genies mit der Tollheit zu un- terſuchen — Das groͤßte Schisma (Joh. X. 20.) hierinn iſt unter den Juden geweſen uͤber den Vortrag eines Propheten aus ihren Bruͤdern. Einige ſagten: ΔΑΙΜΟΝΙΟΝ εχει και ΜΑΙΝΕΤΑΙ, und ſahen die Manie gleichfalls fuͤr die Wirkungen eines Genies an, ja wunderten ſich gar, daß es Menſchen von geſundem Bauernverſtande moͤglich waͤre, ihm zuzuhoͤren. Auch Feſtus urtheilte, daß die viele Beleſenheit den Paulus verwirrt gemacht, und gab ſeinen fanatiſchen Schwindel den Buͤchern Schuld.
Die Beobachtung iſt noch aͤlter, daß alle Meiſter, die ſich in der Philoſophie, Politik, Poe- ſie und Technik hervorgethan, Jnvaliden geweſen.
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I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. II. Zugabe.
des Genies.) „Dieſe Gemuͤthsverfaſſung giebt dem ganzen Charakter einen Anſtrich, wodurch er
„mehr ernſthaft als heiter; mehr tiefſinnig als leichtſinnig wird. Sympathie iſt die unzertrennliche
„Gefaͤhrtinn des Genies.“
Jch thue hinzu — Sympathie — wo nicht das Weſen des Genies, Genie ſelbſt; doch
Quelle des Genies!
Zweyte Zugabe.
Vermiſchte Gedanken uͤber Genie, Genieſprache, Menſchengeſtalt.
Aus einem apokryphiſchen Buche. 1761. Altona.
Ohne Anmerkungen.
1.
Wie der Menſch nach der Gleichheit Gottes erſchaffen worden, ſo ſcheint der Leib eine Figur
oder Bild der Seele zu ſeyn.
2.
Gewiſſe Schriftſteller muͤſſen waͤhrender Zeit ſich nicht ſchaͤmen, die Dichterſprache, ſo gut
ſie koͤnnen, nachzulallen, die am Hofe des Gottes zu Delphos eingefuͤhrt war, nach dem bekannten
Spruͤchwort —
Ουτε λεγει, ουτε κϱυπτει, αλλα σημαινει.
3.
Nichts iſt alſo mehr uͤbrig, als die Graͤnzſtreitigkeiten des Genies mit der Tollheit zu un-
terſuchen — Das groͤßte Schisma (Joh. X. 20.) hierinn iſt unter den Juden geweſen uͤber den
Vortrag eines Propheten aus ihren Bruͤdern. Einige ſagten: ΔΑΙΜΟΝΙΟΝ εχει και ΜΑΙΝΕΤΑΙ,
und ſahen die Manie gleichfalls fuͤr die Wirkungen eines Genies an, ja wunderten ſich gar, daß
es Menſchen von geſundem Bauernverſtande moͤglich waͤre, ihm zuzuhoͤren. Auch Feſtus urtheilte,
daß die viele Beleſenheit den Paulus verwirrt gemacht, und gab ſeinen fanatiſchen Schwindel
den Buͤchern Schuld.
Die Beobachtung iſt noch aͤlter, daß alle Meiſter, die ſich in der Philoſophie, Politik, Poe-
ſie und Technik hervorgethan, Jnvaliden geweſen.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/124>, abgerufen am 23.02.2025.
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