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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. X. Fragment. Genie.
Zehntes Fragment.
Genie.

Was ist Genie? Wer's nicht ist, kann nicht; und wer's ist, wird nicht antworten. *) --
Vielleicht kann's und darf's einigermaßen, wer dann und wann gleichsam in der Mitte schwebt, und
dem's wenigstens bisweilen gegeben ist, in die Höhe über sich, und in die Tiefe unter sich -- hin-
zublicken.

Was ist Genie? was ist's nicht? Jst's bloß Gabe ausnehmender Deutlichkeit in seinen
Vorstellungen und Begriffen? Jst's bloß anschauende Erkenntniß? Jst's bloß richtig sehen und ur-
theilen? viel wirken? ordnen? geben? verbreiten? Jst's bloß -- ungewöhnliche Leichtigkeit zu ler-
nen? zu sehen? zu vergleichen? Jst's bloß Talent? --

Genie ist Genius.

Wer bemerkt, wahrnimmt, schaut, empfindet, denkt, spricht, handelt, bildet, dichtet,
singt, schafft, vergleicht, sondert, vereinigt, folgert, ahndet, giebt, nimmt -- als wenn's ihm
ein Genius, ein unsichtbares Wesen höherer Art diktirt oder angegeben hätte, der hat Ge-
nie; als wenn er selbst ein Wesen höherer Art wäre -- ist Genie.

Einen reichen oder weisen Freund haben, der uns in jeder Verlegenheit räth, in jeder
Noth hilft -- und selbstreich seyn, und andern in jeder Noth helfen; selbstweise, andern in je-
der Verlegenheit rathen zu können -- siehe da den Unterschied zwischen Genie seyn, und Genie
haben.



Wo Wirkung, Kraft, That, Gedanke, Empfindung ist, die von Menschen nicht ge-
lernt und nicht gelehrt werden kann
-- da ist Genie. Genie -- das allererkennbarste und
unbeschreiblichste Ding! fühlbar, wo es ist, und unaussprechlich wie die Liebe.

Der
*) [Spaltenumbruch] "Ne cherches point, jeune artiste, ce que c'est que
"le Genie. En as-tu: tu le sens en toi-meme. N'en
[Spaltenumbruch] "as-tu pas: tu ne le connoitras j'amais." Rousseau
Diction. de Musique. p. 360.
I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie.
Zehntes Fragment.
Genie.

Was iſt Genie? Wer’s nicht iſt, kann nicht; und wer’s iſt, wird nicht antworten. *)
Vielleicht kann’s und darf’s einigermaßen, wer dann und wann gleichſam in der Mitte ſchwebt, und
dem’s wenigſtens bisweilen gegeben iſt, in die Hoͤhe uͤber ſich, und in die Tiefe unter ſich — hin-
zublicken.

Was iſt Genie? was iſt’s nicht? Jſt’s bloß Gabe ausnehmender Deutlichkeit in ſeinen
Vorſtellungen und Begriffen? Jſt’s bloß anſchauende Erkenntniß? Jſt’s bloß richtig ſehen und ur-
theilen? viel wirken? ordnen? geben? verbreiten? Jſt’s bloß — ungewoͤhnliche Leichtigkeit zu ler-
nen? zu ſehen? zu vergleichen? Jſt’s bloß Talent?

Genie iſt Genius.

Wer bemerkt, wahrnimmt, ſchaut, empfindet, denkt, ſpricht, handelt, bildet, dichtet,
ſingt, ſchafft, vergleicht, ſondert, vereinigt, folgert, ahndet, giebt, nimmt — als wenn’s ihm
ein Genius, ein unſichtbares Weſen hoͤherer Art diktirt oder angegeben haͤtte, der hat Ge-
nie; als wenn er ſelbſt ein Weſen hoͤherer Art waͤre — iſt Genie.

Einen reichen oder weiſen Freund haben, der uns in jeder Verlegenheit raͤth, in jeder
Noth hilft — und ſelbſtreich ſeyn, und andern in jeder Noth helfen; ſelbſtweiſe, andern in je-
der Verlegenheit rathen zu koͤnnen — ſiehe da den Unterſchied zwiſchen Genie ſeyn, und Genie
haben.



Wo Wirkung, Kraft, That, Gedanke, Empfindung iſt, die von Menſchen nicht ge-
lernt und nicht gelehrt werden kann
— da iſt Genie. Genie — das allererkennbarſte und
unbeſchreiblichſte Ding! fuͤhlbar, wo es iſt, und unausſprechlich wie die Liebe.

Der
*) [Spaltenumbruch] „Ne cherchés point, jeune artiſte, ce que c’eſt que
„le Genie. En as-tu: tu le ſens en toi-même. N’en
[Spaltenumbruch] „as-tu pas: tu ne le connoitras j’amais.“ Rouſſeau
Diction. de Muſique. p. 360.
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[80/0108] I. Abſchnitt. X. Fragment. Genie. Zehntes Fragment. Genie. Was iſt Genie? Wer’s nicht iſt, kann nicht; und wer’s iſt, wird nicht antworten. *) — Vielleicht kann’s und darf’s einigermaßen, wer dann und wann gleichſam in der Mitte ſchwebt, und dem’s wenigſtens bisweilen gegeben iſt, in die Hoͤhe uͤber ſich, und in die Tiefe unter ſich — hin- zublicken. Was iſt Genie? was iſt’s nicht? Jſt’s bloß Gabe ausnehmender Deutlichkeit in ſeinen Vorſtellungen und Begriffen? Jſt’s bloß anſchauende Erkenntniß? Jſt’s bloß richtig ſehen und ur- theilen? viel wirken? ordnen? geben? verbreiten? Jſt’s bloß — ungewoͤhnliche Leichtigkeit zu ler- nen? zu ſehen? zu vergleichen? Jſt’s bloß Talent? — Genie iſt Genius. Wer bemerkt, wahrnimmt, ſchaut, empfindet, denkt, ſpricht, handelt, bildet, dichtet, ſingt, ſchafft, vergleicht, ſondert, vereinigt, folgert, ahndet, giebt, nimmt — als wenn’s ihm ein Genius, ein unſichtbares Weſen hoͤherer Art diktirt oder angegeben haͤtte, der hat Ge- nie; als wenn er ſelbſt ein Weſen hoͤherer Art waͤre — iſt Genie. Einen reichen oder weiſen Freund haben, der uns in jeder Verlegenheit raͤth, in jeder Noth hilft — und ſelbſtreich ſeyn, und andern in jeder Noth helfen; ſelbſtweiſe, andern in je- der Verlegenheit rathen zu koͤnnen — ſiehe da den Unterſchied zwiſchen Genie ſeyn, und Genie haben. Wo Wirkung, Kraft, That, Gedanke, Empfindung iſt, die von Menſchen nicht ge- lernt und nicht gelehrt werden kann — da iſt Genie. Genie — das allererkennbarſte und unbeſchreiblichſte Ding! fuͤhlbar, wo es iſt, und unausſprechlich wie die Liebe. Der *) „Ne cherchés point, jeune artiſte, ce que c’eſt que „le Genie. En as-tu: tu le ſens en toi-même. N’en „as-tu pas: tu ne le connoitras j’amais.“ Rouſſeau Diction. de Muſique. p. 360.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/108>, abgerufen am 17.11.2024.