Drittes Fragment. Physiognomik, Pfeiler der Freundschaft und Achtung. (Beylage zur Revision des ersten Bandes.)
Jm XIII. Fragmente Seite 160. des ersten Bandes heißt's: "Die Physiognomik reißt Herzen "zu Herzen; sie allein stiftet die dauerhaftesten, die göttlichsten Freundschaften; auf keinem unum- "stößlichern Grunde, keinem festern Felsen kann die Freundschaft ruhen, als auf der Wölbung "einer Stirne, dem Rücken einer Nase, dem Umrisse eines Mundes, dem Blicke eines Auges!"
Wenn ein Mensch, der schlechterdings nicht an die Physiognomik glaubt -- nichts von Harmonie zwischen dem innern und äußern Menschen wissen will, diese Behauptung laut weghöhnt, oder leise weglächelt; -- ganz natürlich! Aber an die Physiognomik glauben -- Freund, Verthei- diger davon seyn -- und dennoch das, was hier behauptet wird, als Unsinn und wahrheitlosen Enthusiasmus -- verwerfen -- das scheint, mir wenigstens, schlechterdings unbegreiflich. Ja und Nein sind nicht widersprechender, als diese Denkensart.
Wie viele tausend Gesichter ließen sich zeichnen, die keine Menschenseele zur Freundschaft reitzen werden, die keiner Freundschaft fähig zu seyn scheinen, weder aktifer noch passifer? -- und wie viele Dutzende, auf deren Treue, Güte und Liebenswürdigkeit man sich so sicher, wie auf sich selber verlassen kann!
Wenn die festern Theile eines Menschen das Maaß seiner Kraft -- die Umrisse seiner Fä- higkeiten, die beweglichen -- den Gebrauch, den er von beyden zu machen pflegt, zeigen -- und wenn aus allem zusammen -- das Verhältniß zu meiner Kraft, meiner Reizbarkeit, Beweg- samkeit, Empfindsamkeit, Fähigkeit offenbar wird .... Sollte sich daraus nicht die wei- seste Wahl der Freunde herleiten lassen? --
Warum gefallen uns gewisse Leute beym ersten Anblicke -- und immer mehr, je mehr wir sie ansehen? --
Warum streben wir von gewissen Leuten auf den ersten Anblick zurück -- und immer mehr, je mehr wir sie ansehen?
Warum
III.Fragment.
Drittes Fragment. Phyſiognomik, Pfeiler der Freundſchaft und Achtung. (Beylage zur Reviſion des erſten Bandes.)
Jm XIII. Fragmente Seite 160. des erſten Bandes heißt’s: „Die Phyſiognomik reißt Herzen „zu Herzen; ſie allein ſtiftet die dauerhafteſten, die goͤttlichſten Freundſchaften; auf keinem unum- „ſtoͤßlichern Grunde, keinem feſtern Felſen kann die Freundſchaft ruhen, als auf der Woͤlbung „einer Stirne, dem Ruͤcken einer Naſe, dem Umriſſe eines Mundes, dem Blicke eines Auges!“
Wenn ein Menſch, der ſchlechterdings nicht an die Phyſiognomik glaubt — nichts von Harmonie zwiſchen dem innern und aͤußern Menſchen wiſſen will, dieſe Behauptung laut weghoͤhnt, oder leiſe weglaͤchelt; — ganz natuͤrlich! Aber an die Phyſiognomik glauben — Freund, Verthei- diger davon ſeyn — und dennoch das, was hier behauptet wird, als Unſinn und wahrheitloſen Enthuſiasmus — verwerfen — das ſcheint, mir wenigſtens, ſchlechterdings unbegreiflich. Ja und Nein ſind nicht widerſprechender, als dieſe Denkensart.
Wie viele tauſend Geſichter ließen ſich zeichnen, die keine Menſchenſeele zur Freundſchaft reitzen werden, die keiner Freundſchaft faͤhig zu ſeyn ſcheinen, weder aktifer noch paſſifer? — und wie viele Dutzende, auf deren Treue, Guͤte und Liebenswuͤrdigkeit man ſich ſo ſicher, wie auf ſich ſelber verlaſſen kann!
Wenn die feſtern Theile eines Menſchen das Maaß ſeiner Kraft — die Umriſſe ſeiner Faͤ- higkeiten, die beweglichen — den Gebrauch, den er von beyden zu machen pflegt, zeigen — und wenn aus allem zuſammen — das Verhaͤltniß zu meiner Kraft, meiner Reizbarkeit, Beweg- ſamkeit, Empfindſamkeit, Faͤhigkeit offenbar wird .... Sollte ſich daraus nicht die wei- ſeſte Wahl der Freunde herleiten laſſen? —
Warum gefallen uns gewiſſe Leute beym erſten Anblicke — und immer mehr, je mehr wir ſie anſehen? —
Warum ſtreben wir von gewiſſen Leuten auf den erſten Anblick zuruͤck — und immer mehr, je mehr wir ſie anſehen?
Warum
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III. Fragment.
Drittes Fragment.
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(Beylage zur Reviſion des erſten Bandes.)
Jm XIII. Fragmente Seite 160. des erſten Bandes heißt’s: „Die Phyſiognomik reißt Herzen
„zu Herzen; ſie allein ſtiftet die dauerhafteſten, die goͤttlichſten Freundſchaften; auf keinem unum-
„ſtoͤßlichern Grunde, keinem feſtern Felſen kann die Freundſchaft ruhen, als auf der Woͤlbung
„einer Stirne, dem Ruͤcken einer Naſe, dem Umriſſe eines Mundes, dem Blicke eines Auges!“
Wenn ein Menſch, der ſchlechterdings nicht an die Phyſiognomik glaubt — nichts von
Harmonie zwiſchen dem innern und aͤußern Menſchen wiſſen will, dieſe Behauptung laut weghoͤhnt,
oder leiſe weglaͤchelt; — ganz natuͤrlich! Aber an die Phyſiognomik glauben — Freund, Verthei-
diger davon ſeyn — und dennoch das, was hier behauptet wird, als Unſinn und wahrheitloſen
Enthuſiasmus — verwerfen — das ſcheint, mir wenigſtens, ſchlechterdings unbegreiflich. Ja
und Nein ſind nicht widerſprechender, als dieſe Denkensart.
Wie viele tauſend Geſichter ließen ſich zeichnen, die keine Menſchenſeele zur Freundſchaft
reitzen werden, die keiner Freundſchaft faͤhig zu ſeyn ſcheinen, weder aktifer noch paſſifer? — und
wie viele Dutzende, auf deren Treue, Guͤte und Liebenswuͤrdigkeit man ſich ſo ſicher, wie auf ſich
ſelber verlaſſen kann!
Wenn die feſtern Theile eines Menſchen das Maaß ſeiner Kraft — die Umriſſe ſeiner Faͤ-
higkeiten, die beweglichen — den Gebrauch, den er von beyden zu machen pflegt, zeigen — und
wenn aus allem zuſammen — das Verhaͤltniß zu meiner Kraft, meiner Reizbarkeit, Beweg-
ſamkeit, Empfindſamkeit, Faͤhigkeit offenbar wird .... Sollte ſich daraus nicht die wei-
ſeſte Wahl der Freunde herleiten laſſen? —
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mehr, je mehr wir ſie anſehen?
Warum
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/46>, abgerufen am 03.03.2025.
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