Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.Erstes Fragment. Allgemeine Betrachtungen über Religion und religiose Physiognomien. Nichts genannter, nichts unbekannter, als -- Religion. Das verständlichste und mißver- Religion ... Tugend um Gottes willen? wie Spalding sagt. Ja und nein! alle Der Tugend eigentliche Welt ist die gegenwärtige, die sichtbare; der Tugend, Und -- Religion? -- Sie kömmt aus der unsichtbaren Welt, und geht in die un- ist; F f 3
Erſtes Fragment. Allgemeine Betrachtungen uͤber Religion und religioſe Phyſiognomien. Nichts genannter, nichts unbekannter, als — Religion. Das verſtaͤndlichſte und mißver- Religion ... Tugend um Gottes willen? wie Spalding ſagt. Ja und nein! alle Der Tugend eigentliche Welt iſt die gegenwaͤrtige, die ſichtbare; der Tugend, Und — Religion? — Sie koͤmmt aus der unſichtbaren Welt, und geht in die un- iſt; F f 3
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Erſtes Fragment.
Allgemeine Betrachtungen uͤber Religion und religioſe
Phyſiognomien.
Nichts genannter, nichts unbekannter, als — Religion. Das verſtaͤndlichſte und mißver-
ſtandenſte aller Woͤrter.
Religion ... Tugend um Gottes willen? wie Spalding ſagt. Ja und nein! alle
Tugend um Gottes willen iſt Religion; aber nicht alle Religion iſt Tugend um Gottes wil-
len. Tugend — wie was ganz anders, als Religion, ſo ſehr ſie mit Religion zuſammenfließen
kann, und ſoll, und muß! Dennoch laͤßt ſich Tugend ohne Religion, und Religion ohne
Tugend — ohne Tugendhandlungen wenigſtens, wo Anlaͤſſe fehlen — — gedenken.
Tugend iſt Geiſtesſtaͤrke — Uebermacht der Vernunft uͤber Leidenſchaft. Uebermacht
des Rechtgefuͤhls uͤber reizendes Unrecht. Glaube, (aber nicht Glaube an Gottheit oder
unſichtbare Welt) Glaube, daß meinem innwendigen Menſchen wohler ſeyn werde, wenn er
gewiſſen reizenden ſinnlichen Vergnuͤgungen freywillig entſagt. Staͤrke des Geiſtes, die aus die-
ſem Glauben entſpringt, und mir’s moͤglich macht, Vergnuͤgungen, zu denen ich kein anerkanntes
Recht fuͤhle, von deren Genuß ich Reue oder Schaden zu befahren Urſache habe, zu entſagen —
iſt Tugend.
Der Tugend eigentliche Welt iſt die gegenwaͤrtige, die ſichtbare; der Tugend,
in ſo fern ſie naͤmlich bloß Tugend, und nicht mit Religion tingirt oder genaͤhrt iſt. Der Unglaͤu-
bige, der Atheiſt kann tugendhaft ſeyn. Er kann’s der menſchlichen Geſellſchaft vortheilhaft fin-
den — und vortheilhaft fuͤr ſich — auch bey ſtarken Reizungen zur Ungerechtigkeit, jedem zu ge-
ben, was ihm gebuͤhrt; keinem zu nehmen, was ſein iſt. Der iſt tugendhaft — der ſeinen Zorn
maͤßigt, bloß um ſeinem Beleidiger nicht wehe zu thun — und ſeiner Geſundheit nicht zu ſchaden.
Staͤrke des Geiſtes uͤber das Fleiſch iſt Tugend.
Und — Religion? — Sie koͤmmt aus der unſichtbaren Welt, und geht in die un-
ſichtbare Welt. Nicht die Erde, der Himmel iſt ihr Quell und Ziel! Nicht, was ſichtbar
iſt;
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