Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite
Gelehrte, Denker.
Achte Tafel. Cartesius.

Es gab eine Zeit, wo Aristoteles aller Lehrer Orakel, -- und eine Zeit, wo er jedes Schul-
knaben Gespött war; eine Zeit, wo Cartesius über alles Herr war, und eine Zeit, wo jeder
seichte Witzling ihn wie ein Jnsekt zertrat. Wer zu hoch erhöhet wird, wird zu tief erniedriget ....

Gegen dieses doppelte Uebel eifert die Physiognomik. Sie zeigt den Mann, und im Manne
seine Kraft und sein Verdienst -- oder was er kann, und was er will. Sie allein ist's eigent-
lich, die den Menschen gegen alle unwahre und unbillige Urtheile, die man über ihn fällen kann,
schützt, und nicht nur zeigt, was er ist, sondern auch, was er seyn kann.

Sehet einmal den Menschen an, über den ihr Jahr und Tage Gutes und Böses die Men-
ge gehört habt. So viel wahre, verdrehte, verfälschte Anekdoten -- die ihn zu einem Halbgott
oder Halbteufel logen -- Seht einmal mit dem Auge des feinfühlenden und geübten Physiogno-
misten -- o wie ganz anders werdet ihr den finden, aber zugleich auch den Grund finden, warum
man ihn zum Halbgott erhob, und zum Halbteufel erniedrigte.

Was ich hier sage, ist nicht Deklamation eines in die Wissenschaft Verliebten, ist Wahr-
heit, die wenigstens das folgende Jahrhundert einmüthig anerkennen wird -- eine unendlich weit-
greifende Wahrheit. --

Wenn Neuton kein Wort geschrieben hätte, Neuton von seinem Jahrhunderte ganz miß-
kennt worden wäre -- sein bloßes Bild würd' ihn dem Menschenkenner immer als einen der größ-
ten Menschen zeigen.

Ein wahres Bild ist die einzige Schutzwehr des großen Mannes gegen alle An-
fechtungen des Neides -- und der gerechteste Verwahrer gegen übertriebenes Lob ...

Mir ist unser Cartesius ein neuer Beweis dieser Behauptung.

Ein Gesicht von dieser Art kann beynahe nicht anders als kenntlich seyn. Unter zehntausen-
den ist kaum ein so sonderbares, so ausgezeichnetes Gesicht ...

Und was spricht dieß sonderbare Gesicht?

Fürs Erste -- die höchste Originalität. Es zeigt den Mann, der -- nicht müßig Lücke
füllen soll, den Mann, der Epoche macht. Den Mann, bey Anlaß dessen der vortreffliche
Thomas so unvergleichlich sagt: -- "Je ne m'arrete point sur son Education. Des qu'il

s'agit
Phys. Fragm. II Versuch. M m
Gelehrte, Denker.
Achte Tafel. Carteſius.

Es gab eine Zeit, wo Ariſtoteles aller Lehrer Orakel, — und eine Zeit, wo er jedes Schul-
knaben Geſpoͤtt war; eine Zeit, wo Carteſius uͤber alles Herr war, und eine Zeit, wo jeder
ſeichte Witzling ihn wie ein Jnſekt zertrat. Wer zu hoch erhoͤhet wird, wird zu tief erniedriget ....

Gegen dieſes doppelte Uebel eifert die Phyſiognomik. Sie zeigt den Mann, und im Manne
ſeine Kraft und ſein Verdienſt — oder was er kann, und was er will. Sie allein iſt’s eigent-
lich, die den Menſchen gegen alle unwahre und unbillige Urtheile, die man uͤber ihn faͤllen kann,
ſchuͤtzt, und nicht nur zeigt, was er iſt, ſondern auch, was er ſeyn kann.

Sehet einmal den Menſchen an, uͤber den ihr Jahr und Tage Gutes und Boͤſes die Men-
ge gehoͤrt habt. So viel wahre, verdrehte, verfaͤlſchte Anekdoten — die ihn zu einem Halbgott
oder Halbteufel logen — Seht einmal mit dem Auge des feinfuͤhlenden und geuͤbten Phyſiogno-
miſten — o wie ganz anders werdet ihr den finden, aber zugleich auch den Grund finden, warum
man ihn zum Halbgott erhob, und zum Halbteufel erniedrigte.

Was ich hier ſage, iſt nicht Deklamation eines in die Wiſſenſchaft Verliebten, iſt Wahr-
heit, die wenigſtens das folgende Jahrhundert einmuͤthig anerkennen wird — eine unendlich weit-
greifende Wahrheit. —

Wenn Neuton kein Wort geſchrieben haͤtte, Neuton von ſeinem Jahrhunderte ganz miß-
kennt worden waͤre — ſein bloßes Bild wuͤrd’ ihn dem Menſchenkenner immer als einen der groͤß-
ten Menſchen zeigen.

Ein wahres Bild iſt die einzige Schutzwehr des großen Mannes gegen alle An-
fechtungen des Neides — und der gerechteſte Verwahrer gegen uͤbertriebenes Lob ...

Mir iſt unſer Carteſius ein neuer Beweis dieſer Behauptung.

Ein Geſicht von dieſer Art kann beynahe nicht anders als kenntlich ſeyn. Unter zehntauſen-
den iſt kaum ein ſo ſonderbares, ſo ausgezeichnetes Geſicht ...

Und was ſpricht dieß ſonderbare Geſicht?

Fuͤrs Erſte — die hoͤchſte Originalitaͤt. Es zeigt den Mann, der — nicht muͤßig Luͤcke
fuͤllen ſoll, den Mann, der Epoche macht. Den Mann, bey Anlaß deſſen der vortreffliche
Thomas ſo unvergleichlich ſagt: — „Je ne m’arrête point ſur ſon Education. Des qu’il

s’agit
Phyſ. Fragm. II Verſuch. M m
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0485" n="273"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Gelehrte, Denker.</hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#g">Achte Tafel. Carte&#x017F;ius.</hi> </hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">E</hi>s gab eine Zeit, wo <hi rendition="#fr">Ari&#x017F;toteles</hi> aller Lehrer Orakel, &#x2014; und eine Zeit, wo er jedes Schul-<lb/>
knaben Ge&#x017F;po&#x0364;tt war; eine Zeit, wo <hi rendition="#fr">Carte&#x017F;ius</hi> u&#x0364;ber alles Herr war, und eine Zeit, wo jeder<lb/>
&#x017F;eichte Witzling ihn wie ein Jn&#x017F;ekt zertrat. Wer zu hoch erho&#x0364;het wird, wird zu tief erniedriget ....</p><lb/>
            <p>Gegen die&#x017F;es doppelte Uebel eifert die Phy&#x017F;iognomik. Sie zeigt den Mann, und im Manne<lb/>
&#x017F;eine Kraft und &#x017F;ein Verdien&#x017F;t &#x2014; oder was er <hi rendition="#fr">kann,</hi> und was er <hi rendition="#fr">will.</hi> Sie allein i&#x017F;t&#x2019;s eigent-<lb/>
lich, die den Men&#x017F;chen gegen alle unwahre und unbillige Urtheile, die man u&#x0364;ber ihn fa&#x0364;llen kann,<lb/>
&#x017F;chu&#x0364;tzt, und nicht nur zeigt, was er i&#x017F;t, &#x017F;ondern auch, was er &#x017F;eyn kann.</p><lb/>
            <p>Sehet einmal den Men&#x017F;chen an, u&#x0364;ber den ihr Jahr und Tage Gutes und Bo&#x0364;&#x017F;es die Men-<lb/>
ge geho&#x0364;rt habt. So viel wahre, verdrehte, verfa&#x0364;l&#x017F;chte Anekdoten &#x2014; die ihn zu einem Halbgott<lb/>
oder Halbteufel logen &#x2014; Seht einmal mit dem Auge des feinfu&#x0364;hlenden und geu&#x0364;bten Phy&#x017F;iogno-<lb/>
mi&#x017F;ten &#x2014; o wie ganz anders werdet ihr den finden, aber zugleich auch den Grund finden, warum<lb/>
man ihn zum Halbgott erhob, und zum Halbteufel erniedrigte.</p><lb/>
            <p>Was ich hier &#x017F;age, i&#x017F;t nicht Deklamation eines in die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft Verliebten, i&#x017F;t Wahr-<lb/>
heit, die wenig&#x017F;tens das folgende Jahrhundert einmu&#x0364;thig anerkennen wird &#x2014; eine unendlich weit-<lb/>
greifende Wahrheit. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Wenn <hi rendition="#fr">Neuton</hi> kein Wort ge&#x017F;chrieben ha&#x0364;tte, <hi rendition="#fr">Neuton</hi> von &#x017F;einem Jahrhunderte ganz miß-<lb/>
kennt worden wa&#x0364;re &#x2014; &#x017F;ein bloßes Bild wu&#x0364;rd&#x2019; ihn dem Men&#x017F;chenkenner immer als einen der gro&#x0364;ß-<lb/>
ten Men&#x017F;chen zeigen.</p><lb/>
            <p> <hi rendition="#fr">Ein wahres Bild i&#x017F;t die einzige Schutzwehr des großen Mannes gegen alle An-<lb/>
fechtungen des Neides &#x2014; und der gerechte&#x017F;te Verwahrer gegen u&#x0364;bertriebenes Lob ...</hi> </p><lb/>
            <p>Mir i&#x017F;t un&#x017F;er <hi rendition="#fr">Carte&#x017F;ius</hi> ein neuer Beweis die&#x017F;er Behauptung.</p><lb/>
            <p>Ein Ge&#x017F;icht von die&#x017F;er Art kann beynahe nicht anders als kenntlich &#x017F;eyn. Unter zehntau&#x017F;en-<lb/>
den i&#x017F;t kaum ein &#x017F;o &#x017F;onderbares, &#x017F;o ausgezeichnetes Ge&#x017F;icht ...</p><lb/>
            <p>Und was &#x017F;pricht dieß &#x017F;onderbare Ge&#x017F;icht?</p><lb/>
            <p>Fu&#x0364;rs Er&#x017F;te &#x2014; die ho&#x0364;ch&#x017F;te Originalita&#x0364;t. Es zeigt den Mann, der &#x2014; nicht mu&#x0364;ßig Lu&#x0364;cke<lb/>
fu&#x0364;llen &#x017F;oll, den <hi rendition="#fr">Mann,</hi> der <hi rendition="#fr">Epoche macht.</hi> Den Mann, bey Anlaß de&#x017F;&#x017F;en der vortreffliche<lb/><hi rendition="#fr">Thomas</hi> &#x017F;o unvergleichlich &#x017F;agt: &#x2014; <hi rendition="#aq">&#x201E;Je ne m&#x2019;arrête point &#x017F;ur &#x017F;on Education. Des qu&#x2019;il</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Phy&#x017F;. Fragm.</hi><hi rendition="#aq">II</hi><hi rendition="#fr">Ver&#x017F;uch.</hi> M m</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">s&#x2019;agit</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[273/0485] Gelehrte, Denker. Achte Tafel. Carteſius. Es gab eine Zeit, wo Ariſtoteles aller Lehrer Orakel, — und eine Zeit, wo er jedes Schul- knaben Geſpoͤtt war; eine Zeit, wo Carteſius uͤber alles Herr war, und eine Zeit, wo jeder ſeichte Witzling ihn wie ein Jnſekt zertrat. Wer zu hoch erhoͤhet wird, wird zu tief erniedriget .... Gegen dieſes doppelte Uebel eifert die Phyſiognomik. Sie zeigt den Mann, und im Manne ſeine Kraft und ſein Verdienſt — oder was er kann, und was er will. Sie allein iſt’s eigent- lich, die den Menſchen gegen alle unwahre und unbillige Urtheile, die man uͤber ihn faͤllen kann, ſchuͤtzt, und nicht nur zeigt, was er iſt, ſondern auch, was er ſeyn kann. Sehet einmal den Menſchen an, uͤber den ihr Jahr und Tage Gutes und Boͤſes die Men- ge gehoͤrt habt. So viel wahre, verdrehte, verfaͤlſchte Anekdoten — die ihn zu einem Halbgott oder Halbteufel logen — Seht einmal mit dem Auge des feinfuͤhlenden und geuͤbten Phyſiogno- miſten — o wie ganz anders werdet ihr den finden, aber zugleich auch den Grund finden, warum man ihn zum Halbgott erhob, und zum Halbteufel erniedrigte. Was ich hier ſage, iſt nicht Deklamation eines in die Wiſſenſchaft Verliebten, iſt Wahr- heit, die wenigſtens das folgende Jahrhundert einmuͤthig anerkennen wird — eine unendlich weit- greifende Wahrheit. — Wenn Neuton kein Wort geſchrieben haͤtte, Neuton von ſeinem Jahrhunderte ganz miß- kennt worden waͤre — ſein bloßes Bild wuͤrd’ ihn dem Menſchenkenner immer als einen der groͤß- ten Menſchen zeigen. Ein wahres Bild iſt die einzige Schutzwehr des großen Mannes gegen alle An- fechtungen des Neides — und der gerechteſte Verwahrer gegen uͤbertriebenes Lob ... Mir iſt unſer Carteſius ein neuer Beweis dieſer Behauptung. Ein Geſicht von dieſer Art kann beynahe nicht anders als kenntlich ſeyn. Unter zehntauſen- den iſt kaum ein ſo ſonderbares, ſo ausgezeichnetes Geſicht ... Und was ſpricht dieß ſonderbare Geſicht? Fuͤrs Erſte — die hoͤchſte Originalitaͤt. Es zeigt den Mann, der — nicht muͤßig Luͤcke fuͤllen ſoll, den Mann, der Epoche macht. Den Mann, bey Anlaß deſſen der vortreffliche Thomas ſo unvergleichlich ſagt: — „Je ne m’arrête point ſur ſon Education. Des qu’il s’agit Phyſ. Fragm. II Verſuch. M m

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/485
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/485>, abgerufen am 17.11.2024.