Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.II. Fragment. Seltenheit Zweytes Fragment. Seltenheit des physiognomischen Beobachtungsgeistes. So allgemein das dunkle, unbestimmte, physiognomische Gefühl ist; so selten ist der phy- Keine leichtere Sache scheint zu seyn, als Beobachten -- und keine ist seltener. Beob- Nun darf man nur z. E. die Urtheile einer Menge Menschen über ein und eben das- alles
II. Fragment. Seltenheit Zweytes Fragment. Seltenheit des phyſiognomiſchen Beobachtungsgeiſtes. So allgemein das dunkle, unbeſtimmte, phyſiognomiſche Gefuͤhl iſt; ſo ſelten iſt der phy- Keine leichtere Sache ſcheint zu ſeyn, als Beobachten — und keine iſt ſeltener. Beob- Nun darf man nur z. E. die Urtheile einer Menge Menſchen uͤber ein und eben daſ- alles
<TEI> <text> <body> <pb facs="#f0034" n="16"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Fragment. Seltenheit</hi> </fw><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Zweytes Fragment.</hi><lb/> Seltenheit des phyſiognomiſchen Beobachtungsgeiſtes.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">S</hi>o allgemein das dunkle, unbeſtimmte, phyſiognomiſche Gefuͤhl iſt; ſo ſelten iſt der phy-<lb/> ſiognomiſche Beobachtungsgeiſt. So viele Menſchen phyſiognomiſch <hi rendition="#fr">fuͤhlen;</hi> — ſo wenige<lb/><hi rendition="#fr">denken</hi> phyſiognomiſch.</p><lb/> <p>Keine leichtere Sache ſcheint zu ſeyn, als Beobachten — und keine iſt ſeltener. <hi rendition="#fr">Beob-<lb/> achten,</hi> heißt bey den Mannichfaltigkeiten einer Sache verweilen; eine Sache erſt theilweiſe<lb/> betrachten, und dann ſie ganz mit andern neben ihr exiſtirenden oder moͤglichen Sachen verglei-<lb/> chen; ſich das, was ſie auszeichnet, beſtimmt, zu derjenigen Sache macht, die ſie iſt — klar<lb/> und deutlich vorzeichnen und einpraͤgen; — ſich das individuelle einer Sache im Ganzen und<lb/> ſtuͤckweiſe vergegenwaͤrtigen, ſo daß man dieſe Merkmale dergeſtalt inne hat, daß man dieſelbe<lb/> mit nichts in der Welt, und wenn’s ihr auch noch ſo aͤhnlich waͤre, verwechſeln kann.</p><lb/> <p>Nun darf man nur z. E. die Urtheile einer Menge Menſchen uͤber ein und eben daſ-<lb/> ſelbe Portraͤt anhoͤren, ſo wird man ſich ſogleich von dem allgemeinen Mangel des genauen<lb/> Beobachtungsgeiſtes uͤberzeugen koͤnnen. Nichts aber hat mich ſo ſehr, und wider alle meine<lb/> Erwartung, von dieſer aͤuſſerſten Seltenheit des wahren Beobachtungsgeiſtes, ſelbſt an Maͤn-<lb/> nern von Genie, ſelbſt an wuͤrklich beruͤhmten und ruhmwuͤrdigen Beobachtern, ſelbſt an weit<lb/> groͤßern Phyſiognomiſten, als ich in meinem Leben je zu werden mir ſchmeicheln kann —<lb/> Nichts, ſag’ ich, hat mich von der Seltenheit des aͤchten Beobachtungsgeiſtes ſelbſt an großen<lb/> Maͤnnern ſo ſehr uͤberzeugt — wie die Vermiſchung ganz verſchiedener Portraͤte und Schatten-<lb/> riſſe! Man hat die treffendſten vollkommenſten Aehnlichkeiten zwiſchen namenloſen Portraͤten<lb/> und Schattenbildern im <hi rendition="#aq">I.</hi> Theil und zwiſchen lebenden Perſonen gefunden; man hat die Ur-<lb/> theile, die daruͤber gefaͤllt wurden — fuͤr hoͤchſt ungegruͤndet, wenigſtens aͤuſſerſt unvollſtaͤndig<lb/> erklaͤrt — und das war ganz natuͤrlich; denn ich recenſirte Schattenriſſe von Zuͤrchern und<lb/> Schweizern — und man ſuchte die Urbilder dazu in Berlin und Hannover. Die Mißbeobach-<lb/> tung iſt ſehr leicht, und eben daſſelbe iſt mir vermuthlich ſchon mehrmals wiederfahren. Allein —<lb/> <fw place="bottom" type="catch">alles</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [16/0034]
II. Fragment. Seltenheit
Zweytes Fragment.
Seltenheit des phyſiognomiſchen Beobachtungsgeiſtes.
So allgemein das dunkle, unbeſtimmte, phyſiognomiſche Gefuͤhl iſt; ſo ſelten iſt der phy-
ſiognomiſche Beobachtungsgeiſt. So viele Menſchen phyſiognomiſch fuͤhlen; — ſo wenige
denken phyſiognomiſch.
Keine leichtere Sache ſcheint zu ſeyn, als Beobachten — und keine iſt ſeltener. Beob-
achten, heißt bey den Mannichfaltigkeiten einer Sache verweilen; eine Sache erſt theilweiſe
betrachten, und dann ſie ganz mit andern neben ihr exiſtirenden oder moͤglichen Sachen verglei-
chen; ſich das, was ſie auszeichnet, beſtimmt, zu derjenigen Sache macht, die ſie iſt — klar
und deutlich vorzeichnen und einpraͤgen; — ſich das individuelle einer Sache im Ganzen und
ſtuͤckweiſe vergegenwaͤrtigen, ſo daß man dieſe Merkmale dergeſtalt inne hat, daß man dieſelbe
mit nichts in der Welt, und wenn’s ihr auch noch ſo aͤhnlich waͤre, verwechſeln kann.
Nun darf man nur z. E. die Urtheile einer Menge Menſchen uͤber ein und eben daſ-
ſelbe Portraͤt anhoͤren, ſo wird man ſich ſogleich von dem allgemeinen Mangel des genauen
Beobachtungsgeiſtes uͤberzeugen koͤnnen. Nichts aber hat mich ſo ſehr, und wider alle meine
Erwartung, von dieſer aͤuſſerſten Seltenheit des wahren Beobachtungsgeiſtes, ſelbſt an Maͤn-
nern von Genie, ſelbſt an wuͤrklich beruͤhmten und ruhmwuͤrdigen Beobachtern, ſelbſt an weit
groͤßern Phyſiognomiſten, als ich in meinem Leben je zu werden mir ſchmeicheln kann —
Nichts, ſag’ ich, hat mich von der Seltenheit des aͤchten Beobachtungsgeiſtes ſelbſt an großen
Maͤnnern ſo ſehr uͤberzeugt — wie die Vermiſchung ganz verſchiedener Portraͤte und Schatten-
riſſe! Man hat die treffendſten vollkommenſten Aehnlichkeiten zwiſchen namenloſen Portraͤten
und Schattenbildern im I. Theil und zwiſchen lebenden Perſonen gefunden; man hat die Ur-
theile, die daruͤber gefaͤllt wurden — fuͤr hoͤchſt ungegruͤndet, wenigſtens aͤuſſerſt unvollſtaͤndig
erklaͤrt — und das war ganz natuͤrlich; denn ich recenſirte Schattenriſſe von Zuͤrchern und
Schweizern — und man ſuchte die Urbilder dazu in Berlin und Hannover. Die Mißbeobach-
tung iſt ſehr leicht, und eben daſſelbe iſt mir vermuthlich ſchon mehrmals wiederfahren. Allein —
alles
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |