Jch eile zum Beschlusse dieses ersten Bandes, obgleich ich noch eine unzählige Menge von Sachen zu sagen hätte, die ich kaum einem zweyten Versuche aufsparen darf.
Jch habe in diesem ganzen Bande noch wenig oder keine Regeln, keine Schlüssel ge- geben; noch nichts von dem Wichtigsten, (freylich nicht für blos neugierige Leser Wichtig- sten,) von der Methode Physiognomie zu studiren gesagt; noch wenige Einwendungen angeführt und beantwortet; -- ich hoff' aber, nicht das, was ich noch nicht gesagt, sondern das, was ich gesagt, sey der Prüfung des menschlichen Lesers nicht unwürdig!
Jch verachte keine Einwendung; ich werde gewiß manche, werde nach und nach alle beantworten, die mir von einiger Erheblichkeit zu seyn dünken und bekannt werden. Ueber- haupt aber dünkt mich, daß es besser sey, ein Gebäude, oder wenigstens einige Hauptbruch- stücke des Gebäudes darzustellen, als mit Worten die Einwendung zu bestreiten, "daß es un- "möglich sey, so ein Gebäude aufzuführen."
Es verhält sich mit den Einwendungen gegen die Physiognomik sehr oft, wie mit Dispüten über die Pflichtmäßigkeit und Moralität gewisser Handlungen. Man kann tausend Sophistereyen dagegen sagen, die sich nicht sogleich mit Worten beantworten lassen. Der Tu- gendhafte, dem nichts unerträglicher ist, als Geschwätz und Gezänk über Tugend, hört's, spricht, spricht umsonst, schweigt, zürnt oder lächelt, und geht stille hin und thut, worüber an- dere einen ganzen Tag gestritten haben: "Ob's recht, ob's gut, ob's möglich sey?" Und wenn's dann Schwätzer sehen, so sagen freylich nicht alle, aber alle empfinden's: Recht! Schön! Vortrefflich!
Hunderte werden sich Tage lang über die Physiognomik zanken, Einwendungen ma- chen, die sich nicht sogleich beantworten lassen, der Physiognomist hört's, schweigt, lächelt der Lacher, und geht, und umfaßt aus der Menge einen mißkennten Menschen, freut sich und ruft: "Mein Bruder! Mein Bruder," und fühlt im neugefundenen Menschen Gewißheit und Ge-
nuß,
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Achtzehntes Fragment. Vermiſchtes.
Jch eile zum Beſchluſſe dieſes erſten Bandes, obgleich ich noch eine unzaͤhlige Menge von Sachen zu ſagen haͤtte, die ich kaum einem zweyten Verſuche aufſparen darf.
Jch habe in dieſem ganzen Bande noch wenig oder keine Regeln, keine Schluͤſſel ge- geben; noch nichts von dem Wichtigſten, (freylich nicht fuͤr blos neugierige Leſer Wichtig- ſten,) von der Methode Phyſiognomie zu ſtudiren geſagt; noch wenige Einwendungen angefuͤhrt und beantwortet; — ich hoff' aber, nicht das, was ich noch nicht geſagt, ſondern das, was ich geſagt, ſey der Pruͤfung des menſchlichen Leſers nicht unwuͤrdig!
Jch verachte keine Einwendung; ich werde gewiß manche, werde nach und nach alle beantworten, die mir von einiger Erheblichkeit zu ſeyn duͤnken und bekannt werden. Ueber- haupt aber duͤnkt mich, daß es beſſer ſey, ein Gebaͤude, oder wenigſtens einige Hauptbruch- ſtuͤcke des Gebaͤudes darzuſtellen, als mit Worten die Einwendung zu beſtreiten, „daß es un- „moͤglich ſey, ſo ein Gebaͤude aufzufuͤhren.“
Es verhaͤlt ſich mit den Einwendungen gegen die Phyſiognomik ſehr oft, wie mit Diſpuͤten uͤber die Pflichtmaͤßigkeit und Moralitaͤt gewiſſer Handlungen. Man kann tauſend Sophiſtereyen dagegen ſagen, die ſich nicht ſogleich mit Worten beantworten laſſen. Der Tu- gendhafte, dem nichts unertraͤglicher iſt, als Geſchwaͤtz und Gezaͤnk uͤber Tugend, hoͤrt's, ſpricht, ſpricht umſonſt, ſchweigt, zuͤrnt oder laͤchelt, und geht ſtille hin und thut, woruͤber an- dere einen ganzen Tag geſtritten haben: „Ob's recht, ob's gut, ob's moͤglich ſey?“ Und wenn's dann Schwaͤtzer ſehen, ſo ſagen freylich nicht alle, aber alle empfinden's: Recht! Schoͤn! Vortrefflich!
Hunderte werden ſich Tage lang uͤber die Phyſiognomik zanken, Einwendungen ma- chen, die ſich nicht ſogleich beantworten laſſen, der Phyſiognomiſt hoͤrt's, ſchweigt, laͤchelt der Lacher, und geht, und umfaßt aus der Menge einen mißkennten Menſchen, freut ſich und ruft: „Mein Bruder! Mein Bruder,“ und fuͤhlt im neugefundenen Menſchen Gewißheit und Ge-
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Achtzehntes Fragment.
Vermiſchtes.
Jch eile zum Beſchluſſe dieſes erſten Bandes, obgleich ich noch eine unzaͤhlige Menge von
Sachen zu ſagen haͤtte, die ich kaum einem zweyten Verſuche aufſparen darf.
Jch habe in dieſem ganzen Bande noch wenig oder keine Regeln, keine Schluͤſſel ge-
geben; noch nichts von dem Wichtigſten, (freylich nicht fuͤr blos neugierige Leſer Wichtig-
ſten,) von der Methode Phyſiognomie zu ſtudiren geſagt; noch wenige Einwendungen
angefuͤhrt und beantwortet; — ich hoff' aber, nicht das, was ich noch nicht geſagt, ſondern
das, was ich geſagt, ſey der Pruͤfung des menſchlichen Leſers nicht unwuͤrdig!
Jch verachte keine Einwendung; ich werde gewiß manche, werde nach und nach alle
beantworten, die mir von einiger Erheblichkeit zu ſeyn duͤnken und bekannt werden. Ueber-
haupt aber duͤnkt mich, daß es beſſer ſey, ein Gebaͤude, oder wenigſtens einige Hauptbruch-
ſtuͤcke des Gebaͤudes darzuſtellen, als mit Worten die Einwendung zu beſtreiten, „daß es un-
„moͤglich ſey, ſo ein Gebaͤude aufzufuͤhren.“
Es verhaͤlt ſich mit den Einwendungen gegen die Phyſiognomik ſehr oft, wie mit
Diſpuͤten uͤber die Pflichtmaͤßigkeit und Moralitaͤt gewiſſer Handlungen. Man kann tauſend
Sophiſtereyen dagegen ſagen, die ſich nicht ſogleich mit Worten beantworten laſſen. Der Tu-
gendhafte, dem nichts unertraͤglicher iſt, als Geſchwaͤtz und Gezaͤnk uͤber Tugend, hoͤrt's,
ſpricht, ſpricht umſonſt, ſchweigt, zuͤrnt oder laͤchelt, und geht ſtille hin und thut, woruͤber an-
dere einen ganzen Tag geſtritten haben: „Ob's recht, ob's gut, ob's moͤglich ſey?“ Und wenn's
dann Schwaͤtzer ſehen, ſo ſagen freylich nicht alle, aber alle empfinden's: Recht! Schoͤn!
Vortrefflich!
Hunderte werden ſich Tage lang uͤber die Phyſiognomik zanken, Einwendungen ma-
chen, die ſich nicht ſogleich beantworten laſſen, der Phyſiognomiſt hoͤrt's, ſchweigt, laͤchelt der
Lacher, und geht, und umfaßt aus der Menge einen mißkennten Menſchen, freut ſich und ruft:
„Mein Bruder! Mein Bruder,“ und fuͤhlt im neugefundenen Menſchen Gewißheit und Ge-
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/427>, abgerufen am 22.02.2025.
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