Drittes Fragment. Einige Gründe der Verachtung und Verspottung der Physiognomik.
Eh' ich fortgehen kann, zu beweisen, daß die Physiognomik eine wahre, in der Natur gegrün- dete Wissenschaft sey; eh' ich von ihrem ausgebreiteten Nutzen rede -- eh' ich meine Leser auf die menschliche Natur überhaupt aufmerksam machen kann, finde ich nöthig, einige Ursachen anzufüh- ren, warum man so sehr wider die Physiognomik, besonders die moralische und intellectuelle eingenommen ist, warum man so sehr dagegen eifert, oder so laut darüber lachet.
Daß dieß geschieht -- das wird wol keines Beweises bedürfen? Unter hunderten, die darüber urtheilen, werden immer über neunzig seyn, die, obgleich sie insgeheim, wenigstens bis auf einen gewissen Grad, an die Physiognomik glauben, öffentlich darwider sich erklären, und dar- über lachen. Einige thun es auch von ganzem Herzen. Die Ursachen dieses Betragens sind nicht alle zu ergründen; und wenn sie's wäre, wer wäre kühn genug, sie alle aus der Tiefe des mensch- lichen Herzens herauszuholen, und dem hellen Lichte des Mittags vorzulegen?
Aber es ist dennoch möglich und wichtig, einige der unläugbarsten anzuzeigen, warum der Spott und der feindschaftliche Eifer wider diese Wissenschaft so allgemein, so heftig, so unversöhn- lich ist -- Jch glaube, man wird folgende Ursachen nicht ganz verwerfen können.
1. Man hat erbärmliche Dinge über die Gesichtsdeutung geschrieben. Man hat die Herrlichkeit dieser Wissenschaft in die unvernünftigste und abgeschmackteste Charlatanerie verwandelt; man hat sie mit der weißagenden Stirndeutung und Chiromantie, oder Handwahr- sagerey vermischt; Es kann nichts seichters, grundloseres, allen Menschenverstand empörenderes gedacht werden, als was von Aristoteles Zeiten her darüber geschrieben worden. Und dagegen, was hatte man Gutes, das dafür geschrieben war? Welcher Mann von Verstand und Geschmacke, welches Genie hat die Unpartheylichkeit, die Geistesstärke, die Wahrheitsliebe bey der Untersu- chung dieser Sache angewandt, die sie, sie möchte gegründet oder ungegründet seyn, allemal des- wegen zu verdienen scheint, weil wenigstens vierzig bis funfzig Schriftsteller aus allen Natio-
nen
Phys. Fragm.I.Versuch. D
Drittes Fragment. Einige Gruͤnde der Verachtung und Verſpottung der Phyſiognomik.
Eh' ich fortgehen kann, zu beweiſen, daß die Phyſiognomik eine wahre, in der Natur gegruͤn- dete Wiſſenſchaft ſey; eh' ich von ihrem ausgebreiteten Nutzen rede — eh' ich meine Leſer auf die menſchliche Natur uͤberhaupt aufmerkſam machen kann, finde ich noͤthig, einige Urſachen anzufuͤh- ren, warum man ſo ſehr wider die Phyſiognomik, beſonders die moraliſche und intellectuelle eingenommen iſt, warum man ſo ſehr dagegen eifert, oder ſo laut daruͤber lachet.
Daß dieß geſchieht — das wird wol keines Beweiſes beduͤrfen? Unter hunderten, die daruͤber urtheilen, werden immer uͤber neunzig ſeyn, die, obgleich ſie insgeheim, wenigſtens bis auf einen gewiſſen Grad, an die Phyſiognomik glauben, oͤffentlich darwider ſich erklaͤren, und dar- uͤber lachen. Einige thun es auch von ganzem Herzen. Die Urſachen dieſes Betragens ſind nicht alle zu ergruͤnden; und wenn ſie's waͤre, wer waͤre kuͤhn genug, ſie alle aus der Tiefe des menſch- lichen Herzens herauszuholen, und dem hellen Lichte des Mittags vorzulegen?
Aber es iſt dennoch moͤglich und wichtig, einige der unlaͤugbarſten anzuzeigen, warum der Spott und der feindſchaftliche Eifer wider dieſe Wiſſenſchaft ſo allgemein, ſo heftig, ſo unverſoͤhn- lich iſt — Jch glaube, man wird folgende Urſachen nicht ganz verwerfen koͤnnen.
1. Man hat erbaͤrmliche Dinge uͤber die Geſichtsdeutung geſchrieben. Man hat die Herrlichkeit dieſer Wiſſenſchaft in die unvernuͤnftigſte und abgeſchmackteſte Charlatanerie verwandelt; man hat ſie mit der weißagenden Stirndeutung und Chiromantie, oder Handwahr- ſagerey vermiſcht; Es kann nichts ſeichters, grundloſeres, allen Menſchenverſtand empoͤrenderes gedacht werden, als was von Ariſtoteles Zeiten her daruͤber geſchrieben worden. Und dagegen, was hatte man Gutes, das dafuͤr geſchrieben war? Welcher Mann von Verſtand und Geſchmacke, welches Genie hat die Unpartheylichkeit, die Geiſtesſtaͤrke, die Wahrheitsliebe bey der Unterſu- chung dieſer Sache angewandt, die ſie, ſie moͤchte gegruͤndet oder ungegruͤndet ſeyn, allemal des- wegen zu verdienen ſcheint, weil wenigſtens vierzig bis funfzig Schriftſteller aus allen Natio-
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Phyſ. Fragm.I.Verſuch. D
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Drittes Fragment.
Einige Gruͤnde der Verachtung und Verſpottung
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Eh' ich fortgehen kann, zu beweiſen, daß die Phyſiognomik eine wahre, in der Natur gegruͤn-
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menſchliche Natur uͤberhaupt aufmerkſam machen kann, finde ich noͤthig, einige Urſachen anzufuͤh-
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eingenommen iſt, warum man ſo ſehr dagegen eifert, oder ſo laut daruͤber lachet.
Daß dieß geſchieht — das wird wol keines Beweiſes beduͤrfen? Unter hunderten, die
daruͤber urtheilen, werden immer uͤber neunzig ſeyn, die, obgleich ſie insgeheim, wenigſtens bis
auf einen gewiſſen Grad, an die Phyſiognomik glauben, oͤffentlich darwider ſich erklaͤren, und dar-
uͤber lachen. Einige thun es auch von ganzem Herzen. Die Urſachen dieſes Betragens ſind nicht
alle zu ergruͤnden; und wenn ſie's waͤre, wer waͤre kuͤhn genug, ſie alle aus der Tiefe des menſch-
lichen Herzens herauszuholen, und dem hellen Lichte des Mittags vorzulegen?
Aber es iſt dennoch moͤglich und wichtig, einige der unlaͤugbarſten anzuzeigen, warum der
Spott und der feindſchaftliche Eifer wider dieſe Wiſſenſchaft ſo allgemein, ſo heftig, ſo unverſoͤhn-
lich iſt — Jch glaube, man wird folgende Urſachen nicht ganz verwerfen koͤnnen.
1. Man hat erbaͤrmliche Dinge uͤber die Geſichtsdeutung geſchrieben. Man
hat die Herrlichkeit dieſer Wiſſenſchaft in die unvernuͤnftigſte und abgeſchmackteſte Charlatanerie
verwandelt; man hat ſie mit der weißagenden Stirndeutung und Chiromantie, oder Handwahr-
ſagerey vermiſcht; Es kann nichts ſeichters, grundloſeres, allen Menſchenverſtand empoͤrenderes
gedacht werden, als was von Ariſtoteles Zeiten her daruͤber geſchrieben worden. Und dagegen,
was hatte man Gutes, das dafuͤr geſchrieben war? Welcher Mann von Verſtand und Geſchmacke,
welches Genie hat die Unpartheylichkeit, die Geiſtesſtaͤrke, die Wahrheitsliebe bey der Unterſu-
chung dieſer Sache angewandt, die ſie, ſie moͤchte gegruͤndet oder ungegruͤndet ſeyn, allemal des-
wegen zu verdienen ſcheint, weil wenigſtens vierzig bis funfzig Schriftſteller aus allen Natio-
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Phyſ. Fragm. I. Verſuch. D
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/41>, abgerufen am 22.02.2025.
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