Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.zur Prüfung des physiognomischen Genies. EE. Homer nach einem in Constantinopel gefundnen Bruchstück. Ein gutes, väterliches, vertrauliches Gesicht, voll Bonhomie und Treuherzigkeit! Solche Der Homer in der nachstehenden Vignette ist mehr Mann, ohne alle Rohigkeit! Auch Also in beyden nicht Homer! Drum sey mir erlaubt, die Gefühle über dessen Buste, die in Tret ich unbelehrt vor diese Gestalt; so sag ich: Der Mann sieht nicht, hört nicht, fragt Es ist Homer! Dieß ist der Schädel, in dem die ungeheuren Götter und Helden so viel Raum haben, als megas megalosi tanustheis Dieß ist der Olymp, den diese rein erhabne Nase wie ein andrer Atlas trägt, und über Diese eingesunkne Blindheit, die einwärts gekehrte Sehkraft, strengt das innere Leben Vom J i 3
zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies. EE. Homer nach einem in Conſtantinopel gefundnen Bruchſtuͤck. Ein gutes, vaͤterliches, vertrauliches Geſicht, voll Bonhomie und Treuherzigkeit! Solche Der Homer in der nachſtehenden Vignette iſt mehr Mann, ohne alle Rohigkeit! Auch Alſo in beyden nicht Homer! Drum ſey mir erlaubt, die Gefuͤhle uͤber deſſen Buſte, die in Tret ich unbelehrt vor dieſe Geſtalt; ſo ſag ich: Der Mann ſieht nicht, hoͤrt nicht, fragt Es iſt Homer! Dieß iſt der Schaͤdel, in dem die ungeheuren Goͤtter und Helden ſo viel Raum haben, als μεγας μεγαλωςι τανυσϑεις Dieß iſt der Olymp, den dieſe rein erhabne Naſe wie ein andrer Atlas traͤgt, und uͤber Dieſe eingeſunkne Blindheit, die einwaͤrts gekehrte Sehkraft, ſtrengt das innere Leben Vom J i 3
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0373" n="245"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.</hi> </fw><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">EE.</hi><lb/> Homer nach einem in Conſtantinopel gefundnen Bruchſtuͤck.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">E</hi>in gutes, vaͤterliches, vertrauliches Geſicht, voll Bonhomie und Treuherzigkeit! Solche<lb/> Stirne — vergleiche ſie mit der forſchenden, entwickelnden Kraft, die <hi rendition="#fr">Mendelſohns</hi> Stirne oben<lb/> ſo woͤlbt, unten ſo ſchaͤrft — — Solche Stirne iſt des <hi rendition="#fr">Sehers;</hi> nicht des <hi rendition="#fr">Forſchers.</hi> Die<lb/> Naſe iſt des Feinfuͤhlenden — keines Suͤßzaͤrtlichen und und keines Rohen. Voll Guͤte und Weis-<lb/> heit iſt der Uebergang von der Naſe zur Oberlippe.</p><lb/> <p>Der <hi rendition="#fr">Homer</hi> in der nachſtehenden Vignette iſt mehr Mann, ohne alle Rohigkeit! Auch<lb/> ſanfter, fuͤhlender Beobachter — Nein! Seher, Hoͤrer! Ein gerades, redliches, liebes Geſicht,<lb/> dem jede gerade, redliche Seele herzlich wohl will.</p><lb/> <p>Alſo in beyden nicht <hi rendition="#fr">Homer!</hi> Drum ſey mir erlaubt, die Gefuͤhle uͤber deſſen Buſte, die in<lb/> Gyps Abguß vor mir ſteht, und die jeder Liebhaber ſo oft zu ſehen Gelegenheit hat, hier niederzule-<lb/> gen, bis etwa in folgenden Theilen eine gluͤckliche Nachbildung deſſelben aufgeſtellt werden kann.</p><lb/> <p>Tret ich unbelehrt vor dieſe Geſtalt; ſo ſag ich: Der Mann ſieht nicht, hoͤrt nicht, fragt<lb/> nicht, ſtrebt nicht, wirkt nicht. Der Mittelpunkt aller Sinne dieſes Haupts iſt in der obern,<lb/> flach gewoͤlbten Hoͤhlung der Stirne, dem Sitze des Gedaͤchtniſſes. Jn ihr iſt alles Bild geblieben,<lb/> und alle ihre Muskeln ziehen ſich hinauf, um die lebendigen Geſtalten zur ſprechenden Wange herab-<lb/> zuleiten. Niemals haben ſich dieſe Augbraunen niedergedraͤngt, um Verhaͤltniſſe zu durchforſchen,<lb/> ſie von ihren Geſtalten abgeſondert zu faſſen, hier wohnt alles Leben willig mit und neben einander.</p><lb/> <p>Es iſt Homer!</p><lb/> <p>Dieß iſt der Schaͤdel, in dem die ungeheuren Goͤtter und Helden ſo viel Raum haben, als<lb/> im weiten Himmel und der graͤnzloſen Erde. Hier iſt's, wo Achill</p><lb/> <cit> <quote> <hi rendition="#et">μεγας μεγαλωςι τανυσϑεις<lb/> Κειτο!</hi> </quote> <bibl/> </cit><lb/> <p>Dieß iſt der Olymp, den dieſe rein erhabne Naſe wie ein andrer Atlas traͤgt, und uͤber<lb/> das ganze Geſicht ſolche Feſtigkeit, ſolch eine ſichere Ruhe verbreitet.</p><lb/> <p>Dieſe eingeſunkne Blindheit, die einwaͤrts gekehrte Sehkraft, ſtrengt das innere Leben<lb/> immer ſtaͤrker und ſtaͤrker an, und vollendet den Vater der Dichter.</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig">J i 3</fw> <fw place="bottom" type="catch">Vom</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [245/0373]
zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
EE.
Homer nach einem in Conſtantinopel gefundnen Bruchſtuͤck.
Ein gutes, vaͤterliches, vertrauliches Geſicht, voll Bonhomie und Treuherzigkeit! Solche
Stirne — vergleiche ſie mit der forſchenden, entwickelnden Kraft, die Mendelſohns Stirne oben
ſo woͤlbt, unten ſo ſchaͤrft — — Solche Stirne iſt des Sehers; nicht des Forſchers. Die
Naſe iſt des Feinfuͤhlenden — keines Suͤßzaͤrtlichen und und keines Rohen. Voll Guͤte und Weis-
heit iſt der Uebergang von der Naſe zur Oberlippe.
Der Homer in der nachſtehenden Vignette iſt mehr Mann, ohne alle Rohigkeit! Auch
ſanfter, fuͤhlender Beobachter — Nein! Seher, Hoͤrer! Ein gerades, redliches, liebes Geſicht,
dem jede gerade, redliche Seele herzlich wohl will.
Alſo in beyden nicht Homer! Drum ſey mir erlaubt, die Gefuͤhle uͤber deſſen Buſte, die in
Gyps Abguß vor mir ſteht, und die jeder Liebhaber ſo oft zu ſehen Gelegenheit hat, hier niederzule-
gen, bis etwa in folgenden Theilen eine gluͤckliche Nachbildung deſſelben aufgeſtellt werden kann.
Tret ich unbelehrt vor dieſe Geſtalt; ſo ſag ich: Der Mann ſieht nicht, hoͤrt nicht, fragt
nicht, ſtrebt nicht, wirkt nicht. Der Mittelpunkt aller Sinne dieſes Haupts iſt in der obern,
flach gewoͤlbten Hoͤhlung der Stirne, dem Sitze des Gedaͤchtniſſes. Jn ihr iſt alles Bild geblieben,
und alle ihre Muskeln ziehen ſich hinauf, um die lebendigen Geſtalten zur ſprechenden Wange herab-
zuleiten. Niemals haben ſich dieſe Augbraunen niedergedraͤngt, um Verhaͤltniſſe zu durchforſchen,
ſie von ihren Geſtalten abgeſondert zu faſſen, hier wohnt alles Leben willig mit und neben einander.
Es iſt Homer!
Dieß iſt der Schaͤdel, in dem die ungeheuren Goͤtter und Helden ſo viel Raum haben, als
im weiten Himmel und der graͤnzloſen Erde. Hier iſt's, wo Achill
μεγας μεγαλωςι τανυσϑεις
Κειτο!
Dieß iſt der Olymp, den dieſe rein erhabne Naſe wie ein andrer Atlas traͤgt, und uͤber
das ganze Geſicht ſolche Feſtigkeit, ſolch eine ſichere Ruhe verbreitet.
Dieſe eingeſunkne Blindheit, die einwaͤrts gekehrte Sehkraft, ſtrengt das innere Leben
immer ſtaͤrker und ſtaͤrker an, und vollendet den Vater der Dichter.
Vom
J i 3
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |