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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XIII. Fragment.
Dreyzehntes Fragment.
Vom Nutzen der Physiognomik.

Ob deulichere, bestimmtere, richtigere, ausgedehntere -- hiemit vollkommenere Menschen-
kenntniß
an sich nützlich sey oder nicht -- ob hiemit auch die Kenntniß innerer Eigenschaf-
ten aus äußerlicher Bildung und Zügen Nutzen haben könne oder nicht? das ist eine Frage, de-
ren Beantwortung in diesen Fragmenten eine der ersten Stellen verdient. Wäre die Antwort auf
dieselbe bey mir nicht vor allem andern die ausgemachteste Sache gewesen, diese Fragmente würden
wohl niemals das Licht der Welt erblickt haben. Es ist aber auch eine Frage, die für mich
nicht schwer zu beantworten war, und es mir auch nicht für andre scheint.

Fürs erste gehört sie unter die allgemeinere Frage, ob überhaupt Kenntnisse, und ihre
Vermehrung und Verbesserung den Menschen nützen? Mich dünkt, jedem uneingenommenen Men-
schen sollt's zum voraus lebhaft ahnden, wie diese Frage zu beantworten ist. Man muß in der That
die Natur des Menschen und der Dinge oder das Verhältniß der menschlichen Glückseligkeit zu sei-
nen Kräften und Trieben, das so sehr in die Augen springt, ganz verkennen; man muß durch sehr
einseitige Urtheile sehr geblendet seyn, wenn man nicht einsieht, daß der proportionirte Ge-
brauch jeder Kraft und die proportionirte Befriedigung jedes Triebes, -- die im Men-
schen liegen, gut, nützlich, zur menschlichen Wohlfahrt unentbehrlich sey.
So gewiß
der Mensch körperliche Kräfte und einen Trieb hat, zu wirken, zu schaffen, seine Kräfte zu brau-
chen -- so gewiß ist es gut, ist es nützlich, daß er seine körperlichen Kräfte brauche. So gewiß
er Fähigkeit und Kraft zum lieben hat, und Trieb zum lieben, so gewiß ist es gut, ist es nützlich,
daß er liebe. Und eben so nun auch: so gewiß der Mensch Erkenntniß, Vermögen und Wißtrieb
hat, so gewiß ist es gut, nützlich, nothwendig, daß er in gehörigem Maaße auch diesen Trieb be-
friedige, auch diese Kraft brauche! Wie gekünstelt kommen alle Beweise heraus, daß die Wissen-
schaften, daß Kenntnisse dem Menschen mehr schädlich seyn, und ein Zustand der Unwissenheit dem
allen vorzuziehen sey?

Jch
XIII. Fragment.
Dreyzehntes Fragment.
Vom Nutzen der Phyſiognomik.

Ob deulichere, beſtimmtere, richtigere, ausgedehntere — hiemit vollkommenere Menſchen-
kenntniß
an ſich nuͤtzlich ſey oder nicht — ob hiemit auch die Kenntniß innerer Eigenſchaf-
ten aus aͤußerlicher Bildung und Zuͤgen Nutzen haben koͤnne oder nicht? das iſt eine Frage, de-
ren Beantwortung in dieſen Fragmenten eine der erſten Stellen verdient. Waͤre die Antwort auf
dieſelbe bey mir nicht vor allem andern die ausgemachteſte Sache geweſen, dieſe Fragmente wuͤrden
wohl niemals das Licht der Welt erblickt haben. Es iſt aber auch eine Frage, die fuͤr mich
nicht ſchwer zu beantworten war, und es mir auch nicht fuͤr andre ſcheint.

Fuͤrs erſte gehoͤrt ſie unter die allgemeinere Frage, ob uͤberhaupt Kenntniſſe, und ihre
Vermehrung und Verbeſſerung den Menſchen nuͤtzen? Mich duͤnkt, jedem uneingenommenen Men-
ſchen ſollt's zum voraus lebhaft ahnden, wie dieſe Frage zu beantworten iſt. Man muß in der That
die Natur des Menſchen und der Dinge oder das Verhaͤltniß der menſchlichen Gluͤckſeligkeit zu ſei-
nen Kraͤften und Trieben, das ſo ſehr in die Augen ſpringt, ganz verkennen; man muß durch ſehr
einſeitige Urtheile ſehr geblendet ſeyn, wenn man nicht einſieht, daß der proportionirte Ge-
brauch jeder Kraft und die proportionirte Befriedigung jedes Triebes, — die im Men-
ſchen liegen, gut, nuͤtzlich, zur menſchlichen Wohlfahrt unentbehrlich ſey.
So gewiß
der Menſch koͤrperliche Kraͤfte und einen Trieb hat, zu wirken, zu ſchaffen, ſeine Kraͤfte zu brau-
chen — ſo gewiß iſt es gut, iſt es nuͤtzlich, daß er ſeine koͤrperlichen Kraͤfte brauche. So gewiß
er Faͤhigkeit und Kraft zum lieben hat, und Trieb zum lieben, ſo gewiß iſt es gut, iſt es nuͤtzlich,
daß er liebe. Und eben ſo nun auch: ſo gewiß der Menſch Erkenntniß, Vermoͤgen und Wißtrieb
hat, ſo gewiß iſt es gut, nuͤtzlich, nothwendig, daß er in gehoͤrigem Maaße auch dieſen Trieb be-
friedige, auch dieſe Kraft brauche! Wie gekuͤnſtelt kommen alle Beweiſe heraus, daß die Wiſſen-
ſchaften, daß Kenntniſſe dem Menſchen mehr ſchaͤdlich ſeyn, und ein Zuſtand der Unwiſſenheit dem
allen vorzuziehen ſey?

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[156/0224] XIII. Fragment. Dreyzehntes Fragment. Vom Nutzen der Phyſiognomik. Ob deulichere, beſtimmtere, richtigere, ausgedehntere — hiemit vollkommenere Menſchen- kenntniß an ſich nuͤtzlich ſey oder nicht — ob hiemit auch die Kenntniß innerer Eigenſchaf- ten aus aͤußerlicher Bildung und Zuͤgen Nutzen haben koͤnne oder nicht? das iſt eine Frage, de- ren Beantwortung in dieſen Fragmenten eine der erſten Stellen verdient. Waͤre die Antwort auf dieſelbe bey mir nicht vor allem andern die ausgemachteſte Sache geweſen, dieſe Fragmente wuͤrden wohl niemals das Licht der Welt erblickt haben. Es iſt aber auch eine Frage, die fuͤr mich nicht ſchwer zu beantworten war, und es mir auch nicht fuͤr andre ſcheint. Fuͤrs erſte gehoͤrt ſie unter die allgemeinere Frage, ob uͤberhaupt Kenntniſſe, und ihre Vermehrung und Verbeſſerung den Menſchen nuͤtzen? Mich duͤnkt, jedem uneingenommenen Men- ſchen ſollt's zum voraus lebhaft ahnden, wie dieſe Frage zu beantworten iſt. Man muß in der That die Natur des Menſchen und der Dinge oder das Verhaͤltniß der menſchlichen Gluͤckſeligkeit zu ſei- nen Kraͤften und Trieben, das ſo ſehr in die Augen ſpringt, ganz verkennen; man muß durch ſehr einſeitige Urtheile ſehr geblendet ſeyn, wenn man nicht einſieht, daß der proportionirte Ge- brauch jeder Kraft und die proportionirte Befriedigung jedes Triebes, — die im Men- ſchen liegen, gut, nuͤtzlich, zur menſchlichen Wohlfahrt unentbehrlich ſey. So gewiß der Menſch koͤrperliche Kraͤfte und einen Trieb hat, zu wirken, zu ſchaffen, ſeine Kraͤfte zu brau- chen — ſo gewiß iſt es gut, iſt es nuͤtzlich, daß er ſeine koͤrperlichen Kraͤfte brauche. So gewiß er Faͤhigkeit und Kraft zum lieben hat, und Trieb zum lieben, ſo gewiß iſt es gut, iſt es nuͤtzlich, daß er liebe. Und eben ſo nun auch: ſo gewiß der Menſch Erkenntniß, Vermoͤgen und Wißtrieb hat, ſo gewiß iſt es gut, nuͤtzlich, nothwendig, daß er in gehoͤrigem Maaße auch dieſen Trieb be- friedige, auch dieſe Kraft brauche! Wie gekuͤnſtelt kommen alle Beweiſe heraus, daß die Wiſſen- ſchaften, daß Kenntniſſe dem Menſchen mehr ſchaͤdlich ſeyn, und ein Zuſtand der Unwiſſenheit dem allen vorzuziehen ſey? Jch

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/224>, abgerufen am 21.11.2024.