Sie sind, liebste Freundinn, mit dem Ton meines letzten Briefs besser zufrieden, als sie es seit meiner Abreise aus D. nie- mals waren. Darf ich wohl meine Emilia einer Ungerechtigkeit anklagen, weil sie mir von der Veränderung meiner Jdeen und Ausdrücke spricht. Jch fühle diese Verschiedenheit selbst; aber ich finde auch, daß sie eine ganz natürliche Wür- kung der großen Abänderung meines Schicksals ist. Zu D. war ich angesehen, mit Glücksaussichten umgeben, und mit mir selbst zufrieden, daher auch geschickter, muntere Beobachtungen über fremde Ge- genstände zu machen. Mein Witz spielte frey mit kleinen Beschreibungen, und mit Lob und Tadel alles dessen, was mit mei- nen Jdeen stimmte, oder nicht. Nach dem wurde ich von Glück und Selbst- zufriedenheit entfernt; Thränen und Jam- mer sind mein Antheil worden. War es
da
Zweyter Brief von Madam Leidens.
Sie ſind, liebſte Freundinn, mit dem Ton meines letzten Briefs beſſer zufrieden, als ſie es ſeit meiner Abreiſe aus D. nie- mals waren. Darf ich wohl meine Emilia einer Ungerechtigkeit anklagen, weil ſie mir von der Veraͤnderung meiner Jdeen und Ausdruͤcke ſpricht. Jch fuͤhle dieſe Verſchiedenheit ſelbſt; aber ich finde auch, daß ſie eine ganz natuͤrliche Wuͤr- kung der großen Abaͤnderung meines Schickſals iſt. Zu D. war ich angeſehen, mit Gluͤcksausſichten umgeben, und mit mir ſelbſt zufrieden, daher auch geſchickter, muntere Beobachtungen uͤber fremde Ge- genſtaͤnde zu machen. Mein Witz ſpielte frey mit kleinen Beſchreibungen, und mit Lob und Tadel alles deſſen, was mit mei- nen Jdeen ſtimmte, oder nicht. Nach dem wurde ich von Gluͤck und Selbſt- zufriedenheit entfernt; Thraͤnen und Jam- mer ſind mein Antheil worden. War es
da
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0082"n="76"/><fwplace="top"type="header"><lb/></fw><divn="2"><head>Zweyter Brief<lb/>
von<lb/><hirendition="#b"><hirendition="#g">Madam Leidens.</hi></hi></head><lb/><p><hirendition="#in">S</hi>ie ſind, liebſte Freundinn, mit dem<lb/>
Ton meines letzten Briefs beſſer zufrieden,<lb/>
als ſie es ſeit meiner Abreiſe aus D. nie-<lb/>
mals waren. Darf ich wohl meine<lb/>
Emilia einer Ungerechtigkeit anklagen,<lb/>
weil ſie mir von der Veraͤnderung meiner<lb/>
Jdeen und Ausdruͤcke ſpricht. Jch fuͤhle<lb/>
dieſe Verſchiedenheit ſelbſt; aber ich finde<lb/>
auch, daß ſie eine ganz natuͤrliche Wuͤr-<lb/>
kung der großen Abaͤnderung meines<lb/>
Schickſals iſt. Zu D. war ich angeſehen,<lb/>
mit Gluͤcksausſichten umgeben, und mit<lb/>
mir ſelbſt zufrieden, daher auch geſchickter,<lb/>
muntere Beobachtungen uͤber fremde Ge-<lb/>
genſtaͤnde zu machen. Mein Witz ſpielte<lb/>
frey mit kleinen Beſchreibungen, und mit<lb/>
Lob und Tadel alles deſſen, was mit mei-<lb/>
nen Jdeen ſtimmte, oder nicht. Nach<lb/>
dem wurde ich von Gluͤck und Selbſt-<lb/>
zufriedenheit entfernt; Thraͤnen und Jam-<lb/>
mer ſind mein Antheil worden. War es<lb/><fwplace="bottom"type="catch">da</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[76/0082]
Zweyter Brief
von
Madam Leidens.
Sie ſind, liebſte Freundinn, mit dem
Ton meines letzten Briefs beſſer zufrieden,
als ſie es ſeit meiner Abreiſe aus D. nie-
mals waren. Darf ich wohl meine
Emilia einer Ungerechtigkeit anklagen,
weil ſie mir von der Veraͤnderung meiner
Jdeen und Ausdruͤcke ſpricht. Jch fuͤhle
dieſe Verſchiedenheit ſelbſt; aber ich finde
auch, daß ſie eine ganz natuͤrliche Wuͤr-
kung der großen Abaͤnderung meines
Schickſals iſt. Zu D. war ich angeſehen,
mit Gluͤcksausſichten umgeben, und mit
mir ſelbſt zufrieden, daher auch geſchickter,
muntere Beobachtungen uͤber fremde Ge-
genſtaͤnde zu machen. Mein Witz ſpielte
frey mit kleinen Beſchreibungen, und mit
Lob und Tadel alles deſſen, was mit mei-
nen Jdeen ſtimmte, oder nicht. Nach
dem wurde ich von Gluͤck und Selbſt-
zufriedenheit entfernt; Thraͤnen und Jam-
mer ſind mein Antheil worden. War es
da
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/82>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.