Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

des Wahren und Jrrigen.
ungleich strengern Verstande wahr. Wie dieses durch
identische Sätze geschehe, haben wir in der Dianoio-
logie (§. 406.) angezeigt. Uebrigens ist für sich klar,
daß auf so vielerley Arten der Satz V durch eine
Schlußrede von wahren Vordersätzen und richtiger
Form kann erwiesen werden, auf so vielerley Arten
auch das Läugnen desselben das Läugnen der Vorder-
sätze, oder wenigstens eines derselben nach sich ziehe,
und in sofern auch eine Abhänglichkeit zwischen den-
selben statt habe.

§. 258.

Es ist an sich unmöglich, alle Wahrheiten
zugleich zu läugnen.
Man setze, es könne ange-
hen, so macht man aus jedem wahren Satze: A ist
B, einen falschen: A ist nicht B, und hinwiederum
aus jedem wahren Satze: A ist nicht B, einen fal-
schen:
A ist B. Demnach erhält man eben so viele
irrige Sätze, als im Reiche der Wahrheiten wahre
sind. Sollte nun in diesem Cahos von Jrrthümern
durchaus nichts Wahres zurück bleiben, so müßte
der Läugnende durchaus nichts gedenken, (§. 195.)
folglich auch nichts läugnen. Welches ungereimt ist.
Daher geht es auch nicht an, daß man alle Wahr-
heiten zugleich sollte läugnen können.

§. 259.

Das Wahre ist demnach bey jedem denkenden We-
sen so eingewurzelt, daß man, ohne etwas Wahres
zu denken, gar nichts denken kann, und daß selbst
der Jrrthum von dem Wahren borgen muß, weil
man, ohne Wahres mit einzumengen, nicht irren
kann. (§. 194.) Der Jrrthum besteht nämlich bloß
in der Meynung, daß man mehr denke, als man
wirklich denkt. (§. 193. 205.)

§. 260.
O o 5

des Wahren und Jrrigen.
ungleich ſtrengern Verſtande wahr. Wie dieſes durch
identiſche Saͤtze geſchehe, haben wir in der Dianoio-
logie (§. 406.) angezeigt. Uebrigens iſt fuͤr ſich klar,
daß auf ſo vielerley Arten der Satz V durch eine
Schlußrede von wahren Vorderſaͤtzen und richtiger
Form kann erwieſen werden, auf ſo vielerley Arten
auch das Laͤugnen deſſelben das Laͤugnen der Vorder-
ſaͤtze, oder wenigſtens eines derſelben nach ſich ziehe,
und in ſofern auch eine Abhaͤnglichkeit zwiſchen den-
ſelben ſtatt habe.

§. 258.

Es iſt an ſich unmoͤglich, alle Wahrheiten
zugleich zu laͤugnen.
Man ſetze, es koͤnne ange-
hen, ſo macht man aus jedem wahren Satze: A iſt
B, einen falſchen: A iſt nicht B, und hinwiederum
aus jedem wahren Satze: A iſt nicht B, einen fal-
ſchen:
A iſt B. Demnach erhaͤlt man eben ſo viele
irrige Saͤtze, als im Reiche der Wahrheiten wahre
ſind. Sollte nun in dieſem Cahos von Jrrthuͤmern
durchaus nichts Wahres zuruͤck bleiben, ſo muͤßte
der Laͤugnende durchaus nichts gedenken, (§. 195.)
folglich auch nichts laͤugnen. Welches ungereimt iſt.
Daher geht es auch nicht an, daß man alle Wahr-
heiten zugleich ſollte laͤugnen koͤnnen.

§. 259.

Das Wahre iſt demnach bey jedem denkenden We-
ſen ſo eingewurzelt, daß man, ohne etwas Wahres
zu denken, gar nichts denken kann, und daß ſelbſt
der Jrrthum von dem Wahren borgen muß, weil
man, ohne Wahres mit einzumengen, nicht irren
kann. (§. 194.) Der Jrrthum beſteht naͤmlich bloß
in der Meynung, daß man mehr denke, als man
wirklich denkt. (§. 193. 205.)

§. 260.
O o 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0607" n="585"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">des Wahren und Jrrigen.</hi></fw><lb/>
ungleich &#x017F;trengern Ver&#x017F;tande wahr. Wie die&#x017F;es durch<lb/>
identi&#x017F;che Sa&#x0364;tze ge&#x017F;chehe, haben wir in der Dianoio-<lb/>
logie (§. 406.) angezeigt. Uebrigens i&#x017F;t fu&#x0364;r &#x017F;ich klar,<lb/>
daß auf &#x017F;o vielerley Arten der Satz <hi rendition="#aq">V</hi> durch eine<lb/>
Schlußrede von wahren Vorder&#x017F;a&#x0364;tzen und richtiger<lb/>
Form kann erwie&#x017F;en werden, auf &#x017F;o vielerley Arten<lb/>
auch das La&#x0364;ugnen de&#x017F;&#x017F;elben das La&#x0364;ugnen der Vorder-<lb/>
&#x017F;a&#x0364;tze, oder wenig&#x017F;tens eines der&#x017F;elben nach &#x017F;ich ziehe,<lb/>
und in &#x017F;ofern auch eine Abha&#x0364;nglichkeit zwi&#x017F;chen den-<lb/>
&#x017F;elben &#x017F;tatt habe.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 258.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Es i&#x017F;t an &#x017F;ich unmo&#x0364;glich, alle Wahrheiten<lb/>
zugleich zu la&#x0364;ugnen.</hi> Man &#x017F;etze, es ko&#x0364;nne ange-<lb/>
hen, &#x017F;o macht man aus jedem wahren Satze: <hi rendition="#aq">A</hi> <hi rendition="#fr">i&#x017F;t</hi><lb/><hi rendition="#aq">B,</hi> einen fal&#x017F;chen: <hi rendition="#aq">A</hi> <hi rendition="#fr">i&#x017F;t nicht</hi> <hi rendition="#aq">B,</hi> und hinwiederum<lb/>
aus jedem wahren Satze: <hi rendition="#aq">A</hi> <hi rendition="#fr">i&#x017F;t nicht</hi> <hi rendition="#aq">B,</hi> einen <hi rendition="#fr">fal-<lb/>
&#x017F;chen:</hi> <hi rendition="#aq">A</hi> <hi rendition="#fr">i&#x017F;t</hi> <hi rendition="#aq">B.</hi> Demnach erha&#x0364;lt man eben &#x017F;o viele<lb/>
irrige Sa&#x0364;tze, als im Reiche der Wahrheiten wahre<lb/>
&#x017F;ind. Sollte nun in die&#x017F;em Cahos von Jrrthu&#x0364;mern<lb/>
durchaus nichts Wahres zuru&#x0364;ck bleiben, &#x017F;o mu&#x0364;ßte<lb/>
der La&#x0364;ugnende durchaus nichts gedenken, (§. 195.)<lb/>
folglich auch nichts la&#x0364;ugnen. Welches ungereimt i&#x017F;t.<lb/>
Daher geht es auch nicht an, daß man alle Wahr-<lb/>
heiten zugleich &#x017F;ollte la&#x0364;ugnen ko&#x0364;nnen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 259.</head><lb/>
            <p>Das Wahre i&#x017F;t demnach bey jedem denkenden We-<lb/>
&#x017F;en &#x017F;o eingewurzelt, daß man, ohne etwas Wahres<lb/>
zu denken, gar nichts denken kann, und daß &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
der Jrrthum von dem Wahren borgen muß, weil<lb/>
man, ohne Wahres mit einzumengen, nicht irren<lb/>
kann. (§. 194.) Der Jrrthum be&#x017F;teht na&#x0364;mlich bloß<lb/>
in der Meynung, daß man mehr denke, als man<lb/>
wirklich denkt. (§. 193. 205.)</p>
          </div><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">O o 5</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">§. 260.</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[585/0607] des Wahren und Jrrigen. ungleich ſtrengern Verſtande wahr. Wie dieſes durch identiſche Saͤtze geſchehe, haben wir in der Dianoio- logie (§. 406.) angezeigt. Uebrigens iſt fuͤr ſich klar, daß auf ſo vielerley Arten der Satz V durch eine Schlußrede von wahren Vorderſaͤtzen und richtiger Form kann erwieſen werden, auf ſo vielerley Arten auch das Laͤugnen deſſelben das Laͤugnen der Vorder- ſaͤtze, oder wenigſtens eines derſelben nach ſich ziehe, und in ſofern auch eine Abhaͤnglichkeit zwiſchen den- ſelben ſtatt habe. §. 258. Es iſt an ſich unmoͤglich, alle Wahrheiten zugleich zu laͤugnen. Man ſetze, es koͤnne ange- hen, ſo macht man aus jedem wahren Satze: A iſt B, einen falſchen: A iſt nicht B, und hinwiederum aus jedem wahren Satze: A iſt nicht B, einen fal- ſchen: A iſt B. Demnach erhaͤlt man eben ſo viele irrige Saͤtze, als im Reiche der Wahrheiten wahre ſind. Sollte nun in dieſem Cahos von Jrrthuͤmern durchaus nichts Wahres zuruͤck bleiben, ſo muͤßte der Laͤugnende durchaus nichts gedenken, (§. 195.) folglich auch nichts laͤugnen. Welches ungereimt iſt. Daher geht es auch nicht an, daß man alle Wahr- heiten zugleich ſollte laͤugnen koͤnnen. §. 259. Das Wahre iſt demnach bey jedem denkenden We- ſen ſo eingewurzelt, daß man, ohne etwas Wahres zu denken, gar nichts denken kann, und daß ſelbſt der Jrrthum von dem Wahren borgen muß, weil man, ohne Wahres mit einzumengen, nicht irren kann. (§. 194.) Der Jrrthum beſteht naͤmlich bloß in der Meynung, daß man mehr denke, als man wirklich denkt. (§. 193. 205.) §. 260. O o 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/607
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/607>, abgerufen am 23.11.2024.