§. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
§. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
Nach den in dem vorhergehenden Paragraphen enthaltenen Ausführungen gehören zu dem gültigen Zustandekommen eines Ge- setzes folgende Erfordernisse: die Feststellung des Gesetzes-Inhaltes, die Sanction, die Promulgation und die Publikation. Es ist nun zu untersuchen, welche Vorschriften die Reichsverfassung für diese Erfordernisse der Reichsgesetze aufgestellt hat.
I.Die Feststellung des Gesetzes-Inhaltes.
1) Nach dem Art. 5 Abs. 1 der Reichsverfassung ist die Ueber- einstimmung der Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrathes und des Reichstages zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend. Diese Bestimmung ist, wie schon oben hervorgehoben wurde, ihrer Fassung nach nicht correct; sie bezieht sich nicht auf den eigent- lichen Erlaß des Gesetzes, sondern auf die Beschlußfassung darüber, was zum Gesetz erhoben werden darf oder soll; sie normirt nicht die Gesetzgebung, sondern einen Theil, ein Stadium derselben. Sie bezeichnet zugleich denjenigen Punkt, an welchem der Weg der Ge- setzgebung anfängt, durch staatsrechtliche Regeln beherrscht zu werden. Ein Gesetz kann zahlreiche, wichtige und lange Zeit in Anspruch nehmende Vorstufen durchgemacht haben, ehe es Gegen- stand einer Beschlußfassung im Bundesrathe oder Reichstage wird; aber diese Vorstufen sind nicht durch Rechtssätze geregelt 1). Wer zuerst den Gedanken eines neuen Gesetzes faßt und dessen Verwirk- lichung anregt; wer sich der Arbeit unterzieht, diesen Gedanken zu formuliren und auszuführen; wer an der Vorberathung, Kritik und Verbesserung dieser Vorschläge sich betheiligt u. s. w., der hat vielleicht an dem Gesetzgebungswerke thatsächlich einen sehr viel größeren Antheil als Bundesrath und Reichstag, welche lediglich seinen Vorschlägen zustimmen. Aber seine gesammte Thätigkeit ist staatsrechtlich unerheblich; seine Dienste für die Gesetzgebung
1) An und für sich wäre dies sehr wohl möglich. Es könnte z. B. vor- geschrieben sein, daß ein Gesetzentwurf, bevor er im Bundesrath oder Reichstag zur Berathung gelangt, einem Staatsrath zur Begutachtung vorgelegt werden müsse. Vrgl. über eine derartige Vorschrift der Württemb. Verf. v. Mohl, Württemb. Staatsr. I. §. 32 (S. 196) und über die Mitwirkung des Landes- Ausschusses von Elsaß-Lothringen unten §. 62.
§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Nach den in dem vorhergehenden Paragraphen enthaltenen Ausführungen gehören zu dem gültigen Zuſtandekommen eines Ge- ſetzes folgende Erforderniſſe: die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes, die Sanction, die Promulgation und die Publikation. Es iſt nun zu unterſuchen, welche Vorſchriften die Reichsverfaſſung für dieſe Erforderniſſe der Reichsgeſetze aufgeſtellt hat.
I.Die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes.
1) Nach dem Art. 5 Abſ. 1 der Reichsverfaſſung iſt die Ueber- einſtimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe des Bundesrathes und des Reichstages zu einem Reichsgeſetze erforderlich und ausreichend. Dieſe Beſtimmung iſt, wie ſchon oben hervorgehoben wurde, ihrer Faſſung nach nicht correct; ſie bezieht ſich nicht auf den eigent- lichen Erlaß des Geſetzes, ſondern auf die Beſchlußfaſſung darüber, was zum Geſetz erhoben werden darf oder ſoll; ſie normirt nicht die Geſetzgebung, ſondern einen Theil, ein Stadium derſelben. Sie bezeichnet zugleich denjenigen Punkt, an welchem der Weg der Ge- ſetzgebung anfängt, durch ſtaatsrechtliche Regeln beherrſcht zu werden. Ein Geſetz kann zahlreiche, wichtige und lange Zeit in Anſpruch nehmende Vorſtufen durchgemacht haben, ehe es Gegen- ſtand einer Beſchlußfaſſung im Bundesrathe oder Reichstage wird; aber dieſe Vorſtufen ſind nicht durch Rechtsſätze geregelt 1). Wer zuerſt den Gedanken eines neuen Geſetzes faßt und deſſen Verwirk- lichung anregt; wer ſich der Arbeit unterzieht, dieſen Gedanken zu formuliren und auszuführen; wer an der Vorberathung, Kritik und Verbeſſerung dieſer Vorſchläge ſich betheiligt u. ſ. w., der hat vielleicht an dem Geſetzgebungswerke thatſächlich einen ſehr viel größeren Antheil als Bundesrath und Reichstag, welche lediglich ſeinen Vorſchlägen zuſtimmen. Aber ſeine geſammte Thätigkeit iſt ſtaatsrechtlich unerheblich; ſeine Dienſte für die Geſetzgebung
1) An und für ſich wäre dies ſehr wohl möglich. Es könnte z. B. vor- geſchrieben ſein, daß ein Geſetzentwurf, bevor er im Bundesrath oder Reichstag zur Berathung gelangt, einem Staatsrath zur Begutachtung vorgelegt werden müſſe. Vrgl. über eine derartige Vorſchrift der Württemb. Verf. v. Mohl, Württemb. Staatsr. I. §. 32 (S. 196) und über die Mitwirkung des Landes- Ausſchuſſes von Elſaß-Lothringen unten §. 62.
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§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
Nach den in dem vorhergehenden Paragraphen enthaltenen
Ausführungen gehören zu dem gültigen Zuſtandekommen eines Ge-
ſetzes folgende Erforderniſſe: die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes,
die Sanction, die Promulgation und die Publikation. Es iſt nun
zu unterſuchen, welche Vorſchriften die Reichsverfaſſung für dieſe
Erforderniſſe der Reichsgeſetze aufgeſtellt hat.
I. Die Feſtſtellung des Geſetzes-Inhaltes.
1) Nach dem Art. 5 Abſ. 1 der Reichsverfaſſung iſt die Ueber-
einſtimmung der Mehrheitsbeſchlüſſe des Bundesrathes und des
Reichstages zu einem Reichsgeſetze erforderlich und ausreichend.
Dieſe Beſtimmung iſt, wie ſchon oben hervorgehoben wurde, ihrer
Faſſung nach nicht correct; ſie bezieht ſich nicht auf den eigent-
lichen Erlaß des Geſetzes, ſondern auf die Beſchlußfaſſung darüber,
was zum Geſetz erhoben werden darf oder ſoll; ſie normirt nicht
die Geſetzgebung, ſondern einen Theil, ein Stadium derſelben. Sie
bezeichnet zugleich denjenigen Punkt, an welchem der Weg der Ge-
ſetzgebung anfängt, durch ſtaatsrechtliche Regeln beherrſcht zu
werden. Ein Geſetz kann zahlreiche, wichtige und lange Zeit in
Anſpruch nehmende Vorſtufen durchgemacht haben, ehe es Gegen-
ſtand einer Beſchlußfaſſung im Bundesrathe oder Reichstage wird;
aber dieſe Vorſtufen ſind nicht durch Rechtsſätze geregelt 1). Wer
zuerſt den Gedanken eines neuen Geſetzes faßt und deſſen Verwirk-
lichung anregt; wer ſich der Arbeit unterzieht, dieſen Gedanken zu
formuliren und auszuführen; wer an der Vorberathung, Kritik
und Verbeſſerung dieſer Vorſchläge ſich betheiligt u. ſ. w., der hat
vielleicht an dem Geſetzgebungswerke thatſächlich einen ſehr viel
größeren Antheil als Bundesrath und Reichstag, welche lediglich
ſeinen Vorſchlägen zuſtimmen. Aber ſeine geſammte Thätigkeit iſt
ſtaatsrechtlich unerheblich; ſeine Dienſte für die Geſetzgebung
1) An und für ſich wäre dies ſehr wohl möglich. Es könnte z. B. vor-
geſchrieben ſein, daß ein Geſetzentwurf, bevor er im Bundesrath oder Reichstag
zur Berathung gelangt, einem Staatsrath zur Begutachtung vorgelegt werden
müſſe. Vrgl. über eine derartige Vorſchrift der Württemb. Verf. v. Mohl,
Württemb. Staatsr. I. §. 32 (S. 196) und über die Mitwirkung des Landes-
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/38>, abgerufen am 03.03.2025.
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