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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892.

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alkoholischen, beobachten wir unter sehr verschiedenartigen Verhält-
nissen, ohne dass darum jene psychischen Consequenzen sich ergeben,
wie sie Bunge aus der Lähmung des klaren Urtheils ableitet. Am
nächsten liegt es vielleicht, hier an die physiologische Ermüdung zu
erinnern. Die symptomatische Aehnlichkeit derselben mit der alkoho-
lischen Ermüdung haben wir schon früher besprochen, und der Ueber-
gang beider Zustände in denjenigen des Schlafes ist ja bekannt. Auch
bei wachsender einfacher Ermüdung trübt sich die Fähigkeit der Auf-
fassung und das Urtheil; auch der Ermüdete "sieht nicht mehr klar
die Gefahren", aber hier entwickelt sich keine Euphorie, kein grösserer
Lebensmuth. Die Schmerzen und Sorgen treten vielleicht auch zurück,
hinter dem dumpfen aber mächtigen Gefühle der Ermattung und der
Sehnsucht nach Ruhe, aber es kommt nicht zu dem Glauben an er-
höhte Leistungsfähigkeit, nicht zu einer grösseren Lebhaftigkeit der
Körperbewegungen. Natürlich, weil eben das Gefühl der Ermüdung
hier die Situation beherrscht und nicht, wie Bunge sagen würde,
"betäubt" wird.

Ich muss gestehen, dass mir die Vorstellung, das Müdigkeitsgefühl
werde betäubt, nicht recht verständlich erscheint. Nach den herrschen-
den Anschauungen und im Einklange mit zahlreichen experimentellen
Erfahrungen stellt sich die Ermüdung selbst als eine leichte Narkose
dar, die zu einer fortschreitenden Lähmung unserer körperlichen und
psychischen Functionen und schliesslich unfehlbar zum Schlafe führt.
Die Ermüdung stumpft uns daher für allerlei äussere und innere Wahr-
nehmungen mehr und mehr ab, bis wir schliesslich in den höchsten
Graden für die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen überhaupt un-
empfänglich werden. Diese wachsende Erschwerung aller unserer
Leistungen nehmen wir in der Gemeinempfindung der Müdigkeit
wahr. Eine gewisse Rolle spielen dabei die Muskelempfindungen, die
unter Umständen, nach sehr anstrengender körperlicher Arbeit, sogar
schmerzhafter Natur sein können. Diese letzteren, dem Bilde der
Gehirnermüdung nicht wesentlich angehörenden, sondern nur zufällig
und gelegentlich beigemischten Empfindungen können bei fortschreiten-
der Ermüdungsnarkose, wie alle andern Wahrnehmungen, betäubt
werden. Das wirkliche Müdigkeitsgefühl aber kann nur dann schwinden,
wenn die Ursache der Ermüdung selbst beseitigt wird, also durch die
Erholung, oder aber, wenn durch irgend welche andersartigen Einflüsse
wenigstens jene Begleiterscheinungen der Ermüdung in den Hinter-
grund gedrängt werden, deren wir uns bis dahin so peinlich bewusst
wurden. Das kann z. B. geschehen durch lebhafte Affecte. Wir Alle

alkoholischen, beobachten wir unter sehr verschiedenartigen Verhält-
nissen, ohne dass darum jene psychischen Consequenzen sich ergeben,
wie sie Bunge aus der Lähmung des klaren Urtheils ableitet. Am
nächsten liegt es vielleicht, hier an die physiologische Ermüdung zu
erinnern. Die symptomatische Aehnlichkeit derselben mit der alkoho-
lischen Ermüdung haben wir schon früher besprochen, und der Ueber-
gang beider Zustände in denjenigen des Schlafes ist ja bekannt. Auch
bei wachsender einfacher Ermüdung trübt sich die Fähigkeit der Auf-
fassung und das Urtheil; auch der Ermüdete „sieht nicht mehr klar
die Gefahren“, aber hier entwickelt sich keine Euphorie, kein grösserer
Lebensmuth. Die Schmerzen und Sorgen treten vielleicht auch zurück,
hinter dem dumpfen aber mächtigen Gefühle der Ermattung und der
Sehnsucht nach Ruhe, aber es kommt nicht zu dem Glauben an er-
höhte Leistungsfähigkeit, nicht zu einer grösseren Lebhaftigkeit der
Körperbewegungen. Natürlich, weil eben das Gefühl der Ermüdung
hier die Situation beherrscht und nicht, wie Bunge sagen würde,
„betäubt“ wird.

Ich muss gestehen, dass mir die Vorstellung, das Müdigkeitsgefühl
werde betäubt, nicht recht verständlich erscheint. Nach den herrschen-
den Anschauungen und im Einklange mit zahlreichen experimentellen
Erfahrungen stellt sich die Ermüdung selbst als eine leichte Narkose
dar, die zu einer fortschreitenden Lähmung unserer körperlichen und
psychischen Functionen und schliesslich unfehlbar zum Schlafe führt.
Die Ermüdung stumpft uns daher für allerlei äussere und innere Wahr-
nehmungen mehr und mehr ab, bis wir schliesslich in den höchsten
Graden für die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen überhaupt un-
empfänglich werden. Diese wachsende Erschwerung aller unserer
Leistungen nehmen wir in der Gemeinempfindung der Müdigkeit
wahr. Eine gewisse Rolle spielen dabei die Muskelempfindungen, die
unter Umständen, nach sehr anstrengender körperlicher Arbeit, sogar
schmerzhafter Natur sein können. Diese letzteren, dem Bilde der
Gehirnermüdung nicht wesentlich angehörenden, sondern nur zufällig
und gelegentlich beigemischten Empfindungen können bei fortschreiten-
der Ermüdungsnarkose, wie alle andern Wahrnehmungen, betäubt
werden. Das wirkliche Müdigkeitsgefühl aber kann nur dann schwinden,
wenn die Ursache der Ermüdung selbst beseitigt wird, also durch die
Erholung, oder aber, wenn durch irgend welche andersartigen Einflüsse
wenigstens jene Begleiterscheinungen der Ermüdung in den Hinter-
grund gedrängt werden, deren wir uns bis dahin so peinlich bewusst
wurden. Das kann z. B. geschehen durch lebhafte Affecte. Wir Alle

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[198/0214] alkoholischen, beobachten wir unter sehr verschiedenartigen Verhält- nissen, ohne dass darum jene psychischen Consequenzen sich ergeben, wie sie Bunge aus der Lähmung des klaren Urtheils ableitet. Am nächsten liegt es vielleicht, hier an die physiologische Ermüdung zu erinnern. Die symptomatische Aehnlichkeit derselben mit der alkoho- lischen Ermüdung haben wir schon früher besprochen, und der Ueber- gang beider Zustände in denjenigen des Schlafes ist ja bekannt. Auch bei wachsender einfacher Ermüdung trübt sich die Fähigkeit der Auf- fassung und das Urtheil; auch der Ermüdete „sieht nicht mehr klar die Gefahren“, aber hier entwickelt sich keine Euphorie, kein grösserer Lebensmuth. Die Schmerzen und Sorgen treten vielleicht auch zurück, hinter dem dumpfen aber mächtigen Gefühle der Ermattung und der Sehnsucht nach Ruhe, aber es kommt nicht zu dem Glauben an er- höhte Leistungsfähigkeit, nicht zu einer grösseren Lebhaftigkeit der Körperbewegungen. Natürlich, weil eben das Gefühl der Ermüdung hier die Situation beherrscht und nicht, wie Bunge sagen würde, „betäubt“ wird. Ich muss gestehen, dass mir die Vorstellung, das Müdigkeitsgefühl werde betäubt, nicht recht verständlich erscheint. Nach den herrschen- den Anschauungen und im Einklange mit zahlreichen experimentellen Erfahrungen stellt sich die Ermüdung selbst als eine leichte Narkose dar, die zu einer fortschreitenden Lähmung unserer körperlichen und psychischen Functionen und schliesslich unfehlbar zum Schlafe führt. Die Ermüdung stumpft uns daher für allerlei äussere und innere Wahr- nehmungen mehr und mehr ab, bis wir schliesslich in den höchsten Graden für die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen überhaupt un- empfänglich werden. Diese wachsende Erschwerung aller unserer Leistungen nehmen wir in der Gemeinempfindung der Müdigkeit wahr. Eine gewisse Rolle spielen dabei die Muskelempfindungen, die unter Umständen, nach sehr anstrengender körperlicher Arbeit, sogar schmerzhafter Natur sein können. Diese letzteren, dem Bilde der Gehirnermüdung nicht wesentlich angehörenden, sondern nur zufällig und gelegentlich beigemischten Empfindungen können bei fortschreiten- der Ermüdungsnarkose, wie alle andern Wahrnehmungen, betäubt werden. Das wirkliche Müdigkeitsgefühl aber kann nur dann schwinden, wenn die Ursache der Ermüdung selbst beseitigt wird, also durch die Erholung, oder aber, wenn durch irgend welche andersartigen Einflüsse wenigstens jene Begleiterscheinungen der Ermüdung in den Hinter- grund gedrängt werden, deren wir uns bis dahin so peinlich bewusst wurden. Das kann z. B. geschehen durch lebhafte Affecte. Wir Alle

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Zitationshilfe: Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/214>, abgerufen am 26.04.2024.