Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Oden. Hamburg, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite
An Giseke.
Geh! ich reisse mich los, obgleich die männliche
Tugend

Nicht die Thräne verbeut,
Geh! ich weine nicht, Freund. Ich müßte mein Le-
ben durchweinen,

Weint' ich dir, Giseke, nach!
Denn so werden sie alle dahingehn, jeder den andern
Traurend verlassen, und fliehn.
Also trennet der Tod gewählte Gatten! der Mann
kam

Seufzend im Ocean um,
Sie am Gestad, wo von Todtengeripp, und Schei-
ter, und Meersand

Stürme das Grab ihr erhöhn.
So liegt Miltons Gebein von Homers Gebeine ge-
sondert,

Und der Cypresse verweht
Ihre Klag' am Grabe des Einen, und kommt nicht
hinüber

Nach des Anderen Gruft.
So schrieb unser aller Verhängniß auf eherne Ta-
feln

Der im Himmel, und schwieg.
Was der Hocherhabene schrieb, verehr' ich im Staube,
Weine gen Himmel nicht auf.
Geh, mein Theurer! Es letzen vielleicht sich unsere
Freunde

Auch ohne Thränen mit dir;
Wenn nicht Thränen die Seele vergießt, unweinbar
dem Fremdling

Sanften edlen Gefühls.
Eile
E 5
An Giſeke.
Geh! ich reiſſe mich los, obgleich die maͤnnliche
Tugend

Nicht die Thraͤne verbeut,
Geh! ich weine nicht, Freund. Ich muͤßte mein Le-
ben durchweinen,

Weint’ ich dir, Giſeke, nach!
Denn ſo werden ſie alle dahingehn, jeder den andern
Traurend verlaſſen, und fliehn.
Alſo trennet der Tod gewaͤhlte Gatten! der Mann
kam

Seufzend im Ocean um,
Sie am Geſtad, wo von Todtengeripp, und Schei-
ter, und Meerſand

Stuͤrme das Grab ihr erhoͤhn.
So liegt Miltons Gebein von Homers Gebeine ge-
ſondert,

Und der Cypreſſe verweht
Ihre Klag’ am Grabe des Einen, und kommt nicht
hinuͤber

Nach des Anderen Gruft.
So ſchrieb unſer aller Verhaͤngniß auf eherne Ta-
feln

Der im Himmel, und ſchwieg.
Was der Hocherhabene ſchrieb, verehr’ ich im Staube,
Weine gen Himmel nicht auf.
Geh, mein Theurer! Es letzen vielleicht ſich unſere
Freunde

Auch ohne Thraͤnen mit dir;
Wenn nicht Thraͤnen die Seele vergießt, unweinbar
dem Fremdling

Sanften edlen Gefuͤhls.
Eile
E 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0081" n="73"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">An Gi&#x017F;eke.</hi> </head><lb/>
          <lg>
            <lg type="poem">
              <l>Geh! ich rei&#x017F;&#x017F;e mich los, obgleich die ma&#x0364;nnliche<lb/><hi rendition="#et">Tugend</hi></l><lb/>
              <l>Nicht die Thra&#x0364;ne verbeut,</l><lb/>
              <l>Geh! ich weine nicht, Freund. Ich mu&#x0364;ßte mein Le-<lb/><hi rendition="#et">ben durchweinen,</hi></l><lb/>
              <l>Weint&#x2019; ich dir, Gi&#x017F;eke, nach!</l><lb/>
              <l>Denn &#x017F;o werden &#x017F;ie alle dahingehn, jeder den andern</l><lb/>
              <l>Traurend verla&#x017F;&#x017F;en, und fliehn.</l><lb/>
              <l>Al&#x017F;o trennet der Tod gewa&#x0364;hlte Gatten! der Mann<lb/><hi rendition="#et">kam</hi></l><lb/>
              <l>Seufzend im Ocean um,</l><lb/>
              <l>Sie am Ge&#x017F;tad, wo von Todtengeripp, und Schei-<lb/><hi rendition="#et">ter, und Meer&#x017F;and</hi></l><lb/>
              <l>Stu&#x0364;rme das Grab ihr erho&#x0364;hn.</l><lb/>
              <l>So liegt Miltons Gebein von Homers Gebeine ge-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;ondert,</hi></l><lb/>
              <l>Und der Cypre&#x017F;&#x017F;e verweht</l><lb/>
              <l>Ihre Klag&#x2019; am Grabe des Einen, und kommt nicht<lb/><hi rendition="#et">hinu&#x0364;ber</hi></l><lb/>
              <l>Nach des Anderen Gruft.</l><lb/>
              <l>So &#x017F;chrieb un&#x017F;er aller Verha&#x0364;ngniß auf eherne Ta-<lb/><hi rendition="#et">feln</hi></l><lb/>
              <l>Der im Himmel, und &#x017F;chwieg.</l><lb/>
              <l>Was der Hocherhabene &#x017F;chrieb, verehr&#x2019; ich im Staube,</l><lb/>
              <l>Weine gen Himmel nicht auf.</l><lb/>
              <l>Geh, mein Theurer! Es letzen vielleicht &#x017F;ich un&#x017F;ere<lb/><hi rendition="#et">Freunde</hi></l><lb/>
              <l>Auch ohne Thra&#x0364;nen mit dir;</l><lb/>
              <l>Wenn nicht Thra&#x0364;nen die Seele vergießt, unweinbar<lb/><hi rendition="#et">dem Fremdling</hi></l><lb/>
              <l>Sanften edlen Gefu&#x0364;hls.</l><lb/>
              <fw place="bottom" type="sig">E 5</fw>
              <fw place="bottom" type="catch">Eile</fw><lb/>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0081] An Giſeke. Geh! ich reiſſe mich los, obgleich die maͤnnliche Tugend Nicht die Thraͤne verbeut, Geh! ich weine nicht, Freund. Ich muͤßte mein Le- ben durchweinen, Weint’ ich dir, Giſeke, nach! Denn ſo werden ſie alle dahingehn, jeder den andern Traurend verlaſſen, und fliehn. Alſo trennet der Tod gewaͤhlte Gatten! der Mann kam Seufzend im Ocean um, Sie am Geſtad, wo von Todtengeripp, und Schei- ter, und Meerſand Stuͤrme das Grab ihr erhoͤhn. So liegt Miltons Gebein von Homers Gebeine ge- ſondert, Und der Cypreſſe verweht Ihre Klag’ am Grabe des Einen, und kommt nicht hinuͤber Nach des Anderen Gruft. So ſchrieb unſer aller Verhaͤngniß auf eherne Ta- feln Der im Himmel, und ſchwieg. Was der Hocherhabene ſchrieb, verehr’ ich im Staube, Weine gen Himmel nicht auf. Geh, mein Theurer! Es letzen vielleicht ſich unſere Freunde Auch ohne Thraͤnen mit dir; Wenn nicht Thraͤnen die Seele vergießt, unweinbar dem Fremdling Sanften edlen Gefuͤhls. Eile E 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_oden_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_oden_1771/81
Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Oden. Hamburg, 1771, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_oden_1771/81>, abgerufen am 21.11.2024.