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Kleist, Heinrich von: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Berlin, 1810.

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und so ständ ich nicht vor euch und klagte auf alle,
mir unbegreiflichen, Gräuel der Hölle. Was soll ich
vorbringen, wenn ihr mich fragt, durch welche Mit-
tel? Hat er sie am Brunnen getroffen, wenn sie Was-
ser schöpfte, und gesagt: Lieb Mädel, wer bist du?
hat er sich an den Pfeiler gestellt, wenn sie aus der
Mette kam, und gefragt: Lieb Mädel, wo wohnst
du? hat er sich, bei nächtlicher Weile, an ihr Fenster
geschlichen, und, indem er ihr einen Halsschmuck
umgehängt, gesagt: Lieb Mädel, wo ruhst du? Ihr
hochheiligen Herren, damit war sie nicht zu gewin-
nen! Den Judaskuß errieth unser Heiland nicht ra-
scher, als sie solche Künste. Nicht mit Augen, seit
sie gebohren ward, hat sie ihn gesehen; ihren Rücken,
und das Maal darauf, das sie von ihrer seeligen
Mutter erbte, kannte sie besser, als ihn. (er weint.)
Graf Otto (nach einer Pause.)
Und gleichwohl, wenn er sie verführt hat, du
wunderlicher Alter, so muß es wann und irgendwo
geschehen sein?
Theobald.
Heiligen Abend vor Pfingsten, da er auf fünf
Minuten in meine Werkstatt kam, um sich, wie er
sagte, eine Eisenschiene, die ihm zwischen Schulter
und Brust losgegangen war, wieder zusammenheften
zu lassen.
und ſo ſtänd ich nicht vor euch und klagte auf alle,
mir unbegreiflichen, Gräuel der Hölle. Was ſoll ich
vorbringen, wenn ihr mich fragt, durch welche Mit-
tel? Hat er ſie am Brunnen getroffen, wenn ſie Waſ-
ſer ſchöpfte, und geſagt: Lieb Mädel, wer biſt du?
hat er ſich an den Pfeiler geſtellt, wenn ſie aus der
Mette kam, und gefragt: Lieb Mädel, wo wohnſt
du? hat er ſich, bei nächtlicher Weile, an ihr Fenſter
geſchlichen, und, indem er ihr einen Halsſchmuck
umgehängt, geſagt: Lieb Mädel, wo ruhſt du? Ihr
hochheiligen Herren, damit war ſie nicht zu gewin-
nen! Den Judaskuß errieth unſer Heiland nicht ra-
ſcher, als ſie ſolche Künſte. Nicht mit Augen, ſeit
ſie gebohren ward, hat ſie ihn geſehen; ihren Rücken,
und das Maal darauf, das ſie von ihrer ſeeligen
Mutter erbte, kannte ſie beſſer, als ihn. (er weint.)
Graf Otto (nach einer Pauſe.)
Und gleichwohl, wenn er ſie verführt hat, du
wunderlicher Alter, ſo muß es wann und irgendwo
geſchehen ſein?
Theobald.
Heiligen Abend vor Pfingſten, da er auf fünf
Minuten in meine Werkſtatt kam, um ſich, wie er
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[11/0017] und ſo ſtänd ich nicht vor euch und klagte auf alle, mir unbegreiflichen, Gräuel der Hölle. Was ſoll ich vorbringen, wenn ihr mich fragt, durch welche Mit- tel? Hat er ſie am Brunnen getroffen, wenn ſie Waſ- ſer ſchöpfte, und geſagt: Lieb Mädel, wer biſt du? hat er ſich an den Pfeiler geſtellt, wenn ſie aus der Mette kam, und gefragt: Lieb Mädel, wo wohnſt du? hat er ſich, bei nächtlicher Weile, an ihr Fenſter geſchlichen, und, indem er ihr einen Halsſchmuck umgehängt, geſagt: Lieb Mädel, wo ruhſt du? Ihr hochheiligen Herren, damit war ſie nicht zu gewin- nen! Den Judaskuß errieth unſer Heiland nicht ra- ſcher, als ſie ſolche Künſte. Nicht mit Augen, ſeit ſie gebohren ward, hat ſie ihn geſehen; ihren Rücken, und das Maal darauf, das ſie von ihrer ſeeligen Mutter erbte, kannte ſie beſſer, als ihn. (er weint.) Graf Otto (nach einer Pauſe.) Und gleichwohl, wenn er ſie verführt hat, du wunderlicher Alter, ſo muß es wann und irgendwo geſchehen ſein? Theobald. Heiligen Abend vor Pfingſten, da er auf fünf Minuten in meine Werkſtatt kam, um ſich, wie er ſagte, eine Eiſenſchiene, die ihm zwiſchen Schulter und Bruſt losgegangen war, wieder zuſammenheften zu laſſen.

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Zitationshilfe: Kleist, Heinrich von: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Berlin, 1810, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_kaethchen_1810/17>, abgerufen am 26.04.2024.