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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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hat genug an den Glaser zu zahlen für einge¬
worfene Scheiben. Besteht hingegen die Regie¬
rung aus liberalen Juristen, die viel auf die
Form halten, und aus häcklichen Geldmännern,
so laufen sie flugs dem nächst wohnenden So¬
zialisten zu und ärgern die Regierung, indem
sie denselben in den Rath wählen mit dem Feld¬
geschrei: Es sei nun genug des politischen For¬
menwesens, und die materiellen Interessen seien
es, welche allein das Volk noch kümmern könnten.
Heute wollen sie das Veto haben und sogar die
unmittelbarste Selbstregierung mit permanenter
Volksversammlung, wozu freilich die Seldwyler
am meisten Zeit hätten, morgen stellen sie sich
übermüdet und blasirt in öffentlichen Dingen und
lassen ein halbes Dutzend alte Stillständer, die
vor dreißig Jahren fallirt und sich seither still¬
schweigend rehabilitirt haben, die Wahlen besorgen;
alsdann sehen sie behaglich hinter den Wirths¬
hausfenstern hervor die Stillständer in die Kirche
schleichen und lachen sich in die Faust, wie jener
Knabe, welcher sagte: Es geschieht meinem Vater
schon recht, wenn ich mir die Hände verfriere,
warum kauft er mir keine Handschuhe! Gestern

hat genug an den Glaſer zu zahlen für einge¬
worfene Scheiben. Beſteht hingegen die Regie¬
rung aus liberalen Juriſten, die viel auf die
Form halten, und aus häcklichen Geldmännern,
ſo laufen ſie flugs dem nächſt wohnenden So¬
zialiſten zu und ärgern die Regierung, indem
ſie denſelben in den Rath wählen mit dem Feld¬
geſchrei: Es ſei nun genug des politiſchen For¬
menweſens, und die materiellen Intereſſen ſeien
es, welche allein das Volk noch kümmern könnten.
Heute wollen ſie das Veto haben und ſogar die
unmittelbarſte Selbſtregierung mit permanenter
Volksverſammlung, wozu freilich die Seldwyler
am meiſten Zeit hätten, morgen ſtellen ſie ſich
übermüdet und blaſirt in öffentlichen Dingen und
laſſen ein halbes Dutzend alte Stillſtänder, die
vor dreißig Jahren fallirt und ſich ſeither ſtill¬
ſchweigend rehabilitirt haben, die Wahlen beſorgen;
alsdann ſehen ſie behaglich hinter den Wirths¬
hausfenſtern hervor die Stillſtänder in die Kirche
ſchleichen und lachen ſich in die Fauſt, wie jener
Knabe, welcher ſagte: Es geſchieht meinem Vater
ſchon recht, wenn ich mir die Hände verfriere,
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[6/0018] hat genug an den Glaſer zu zahlen für einge¬ worfene Scheiben. Beſteht hingegen die Regie¬ rung aus liberalen Juriſten, die viel auf die Form halten, und aus häcklichen Geldmännern, ſo laufen ſie flugs dem nächſt wohnenden So¬ zialiſten zu und ärgern die Regierung, indem ſie denſelben in den Rath wählen mit dem Feld¬ geſchrei: Es ſei nun genug des politiſchen For¬ menweſens, und die materiellen Intereſſen ſeien es, welche allein das Volk noch kümmern könnten. Heute wollen ſie das Veto haben und ſogar die unmittelbarſte Selbſtregierung mit permanenter Volksverſammlung, wozu freilich die Seldwyler am meiſten Zeit hätten, morgen ſtellen ſie ſich übermüdet und blaſirt in öffentlichen Dingen und laſſen ein halbes Dutzend alte Stillſtänder, die vor dreißig Jahren fallirt und ſich ſeither ſtill¬ ſchweigend rehabilitirt haben, die Wahlen beſorgen; alsdann ſehen ſie behaglich hinter den Wirths¬ hausfenſtern hervor die Stillſtänder in die Kirche ſchleichen und lachen ſich in die Fauſt, wie jener Knabe, welcher ſagte: Es geſchieht meinem Vater ſchon recht, wenn ich mir die Hände verfriere, warum kauft er mir keine Handſchuhe! Geſtern

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/18>, abgerufen am 29.03.2024.