Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Strafprocesse die civilrechtliche Frage entscheiden,
den aber noch besonders abstrafen, der den Pro¬
ceß verliert. Denn mit dem Strafrichter allein
machte er eine Ausnahme, und der war ihm eine
geheiligte Person.

Solche harmlose Aussprüche der Unschuld ver¬
gessend, war Heinrich jetzt öfter in den verrufen¬
sten aller Vorlesungen, in den Pandekten zu fin¬
den, fast leidenschaftlich beflissen, ein Stück Tex¬
tur und Gewebe römischen Rechtes vor seinen
Augen ausbreiten und erklären zu sehen. Er sah
aus den naturwüchsig concreten Anfängen mit
ihren plastischen Gebräuchen das allgemeinste in
sich selbst ruhende Rechtsleben hervorgehen, zu
einer ungeheuren für Jahrtausende maßgebenden
Disciplin sich entwickeln, doch in jeder Faser eine
Abspiegelung der Menschenverhältnisse, ihrer Be¬
stimmungen, Bedürfnisse, Leidenschaften, Sitten
und Zustände, Fähigkeiten und Mängel, Tugen¬
den und Laster darstellen. Er sah, wie dies ganze
Wesen, dem Rechts- und Freiheitsgefühl einer
Race entsprossen, in seiner Befähigung zur All¬
gemeinheit, seither neben der staatlichen Verkom¬

Strafproceſſe die civilrechtliche Frage entſcheiden,
den aber noch beſonders abſtrafen, der den Pro¬
ceß verliert. Denn mit dem Strafrichter allein
machte er eine Ausnahme, und der war ihm eine
geheiligte Perſon.

Solche harmloſe Ausſpruͤche der Unſchuld ver¬
geſſend, war Heinrich jetzt oͤfter in den verrufen¬
ſten aller Vorleſungen, in den Pandekten zu fin¬
den, faſt leidenſchaftlich befliſſen, ein Stuͤck Tex¬
tur und Gewebe roͤmiſchen Rechtes vor ſeinen
Augen ausbreiten und erklaͤren zu ſehen. Er ſah
aus den naturwuͤchſig concreten Anfaͤngen mit
ihren plaſtiſchen Gebraͤuchen das allgemeinſte in
ſich ſelbſt ruhende Rechtsleben hervorgehen, zu
einer ungeheuren fuͤr Jahrtauſende maßgebenden
Disciplin ſich entwickeln, doch in jeder Faſer eine
Abſpiegelung der Menſchenverhaͤltniſſe, ihrer Be¬
ſtimmungen, Beduͤrfniſſe, Leidenſchaften, Sitten
und Zuſtaͤnde, Faͤhigkeiten und Maͤngel, Tugen¬
den und Laſter darſtellen. Er ſah, wie dies ganze
Weſen, dem Rechts- und Freiheitsgefuͤhl einer
Race entſproſſen, in ſeiner Befaͤhigung zur All¬
gemeinheit, ſeither neben der ſtaatlichen Verkom¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0095" n="85"/>
Strafproce&#x017F;&#x017F;e die civilrechtliche Frage ent&#x017F;cheiden,<lb/>
den aber noch be&#x017F;onders ab&#x017F;trafen, der den Pro¬<lb/>
ceß verliert. Denn mit dem Strafrichter allein<lb/>
machte er eine Ausnahme, und der war ihm eine<lb/>
geheiligte Per&#x017F;on.</p><lb/>
        <p>Solche harmlo&#x017F;e Aus&#x017F;pru&#x0364;che der Un&#x017F;chuld ver¬<lb/>
ge&#x017F;&#x017F;end, war Heinrich jetzt o&#x0364;fter in den verrufen¬<lb/>
&#x017F;ten aller Vorle&#x017F;ungen, in den Pandekten zu fin¬<lb/>
den, fa&#x017F;t leiden&#x017F;chaftlich befli&#x017F;&#x017F;en, ein Stu&#x0364;ck Tex¬<lb/>
tur und Gewebe ro&#x0364;mi&#x017F;chen Rechtes vor &#x017F;einen<lb/>
Augen ausbreiten und erkla&#x0364;ren zu &#x017F;ehen. Er &#x017F;ah<lb/>
aus den naturwu&#x0364;ch&#x017F;ig concreten Anfa&#x0364;ngen mit<lb/>
ihren pla&#x017F;ti&#x017F;chen Gebra&#x0364;uchen das allgemein&#x017F;te in<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ruhende Rechtsleben hervorgehen, zu<lb/>
einer ungeheuren fu&#x0364;r Jahrtau&#x017F;ende maßgebenden<lb/>
Disciplin &#x017F;ich entwickeln, doch in jeder Fa&#x017F;er eine<lb/>
Ab&#x017F;piegelung der Men&#x017F;chenverha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, ihrer Be¬<lb/>
&#x017F;timmungen, Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e, Leiden&#x017F;chaften, Sitten<lb/>
und Zu&#x017F;ta&#x0364;nde, Fa&#x0364;higkeiten und Ma&#x0364;ngel, Tugen¬<lb/>
den und La&#x017F;ter dar&#x017F;tellen. Er &#x017F;ah, wie dies ganze<lb/>
We&#x017F;en, dem Rechts- und Freiheitsgefu&#x0364;hl einer<lb/>
Race ent&#x017F;pro&#x017F;&#x017F;en, in &#x017F;einer Befa&#x0364;higung zur All¬<lb/>
gemeinheit, &#x017F;either neben der &#x017F;taatlichen Verkom¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[85/0095] Strafproceſſe die civilrechtliche Frage entſcheiden, den aber noch beſonders abſtrafen, der den Pro¬ ceß verliert. Denn mit dem Strafrichter allein machte er eine Ausnahme, und der war ihm eine geheiligte Perſon. Solche harmloſe Ausſpruͤche der Unſchuld ver¬ geſſend, war Heinrich jetzt oͤfter in den verrufen¬ ſten aller Vorleſungen, in den Pandekten zu fin¬ den, faſt leidenſchaftlich befliſſen, ein Stuͤck Tex¬ tur und Gewebe roͤmiſchen Rechtes vor ſeinen Augen ausbreiten und erklaͤren zu ſehen. Er ſah aus den naturwuͤchſig concreten Anfaͤngen mit ihren plaſtiſchen Gebraͤuchen das allgemeinſte in ſich ſelbſt ruhende Rechtsleben hervorgehen, zu einer ungeheuren fuͤr Jahrtauſende maßgebenden Disciplin ſich entwickeln, doch in jeder Faſer eine Abſpiegelung der Menſchenverhaͤltniſſe, ihrer Be¬ ſtimmungen, Beduͤrfniſſe, Leidenſchaften, Sitten und Zuſtaͤnde, Faͤhigkeiten und Maͤngel, Tugen¬ den und Laſter darſtellen. Er ſah, wie dies ganze Weſen, dem Rechts- und Freiheitsgefuͤhl einer Race entſproſſen, in ſeiner Befaͤhigung zur All¬ gemeinheit, ſeither neben der ſtaatlichen Verkom¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/95
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/95>, abgerufen am 26.04.2024.