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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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Dinge, unter anderen auch, wie sie geträumt
habe, daß Heinrich auf einem schönen Pferde
reitend in der Vaterstadt angekommen und vor
dem Hause abgestiegen sei, was sie für eine gün¬
stige Vorbedeutung halten wolle.

Es war ihm unmöglich, auch nur eine Zeile
zur Erwiederung hervorzubringen; dagegen folgte
dem ersten Schmerz über den rührenden Brief
ein begieriges Aufsichladen einer verhängnißvollen
Verschuldung, indem er sein ganzes Leben und
sein Schicksal sich als seine Schuld beimaß und
sich darin gefiel, in Ermangelung einer anderen
froheren Thätigkeit, diese Schuld als ein köst¬
liches Gut und Schoßkind zu hätscheln, ohne wel¬
ches ihm das Elend unerträglich gewesen wäre.
Seine Traumgedichte vergessend, brachte er diese
neue Leidseligkeit in gereimte Wortzeilen und
feilte die folgenden mit so wehevollem Herzen
aus, als ob er die schlimmsten Dinge verübt hätte:

O ich erkenn' das Unglück ganz und gar
Und sehe jedes Glied an seiner Kette!
Es ist vernünftig, liebenswürdig klar!
Kein Schlag, den ich nicht ganz verschuldet hätte!

Dinge, unter anderen auch, wie ſie getraͤumt
habe, daß Heinrich auf einem ſchoͤnen Pferde
reitend in der Vaterſtadt angekommen und vor
dem Hauſe abgeſtiegen ſei, was ſie fuͤr eine guͤn¬
ſtige Vorbedeutung halten wolle.

Es war ihm unmoͤglich, auch nur eine Zeile
zur Erwiederung hervorzubringen; dagegen folgte
dem erſten Schmerz uͤber den ruͤhrenden Brief
ein begieriges Aufſichladen einer verhaͤngnißvollen
Verſchuldung, indem er ſein ganzes Leben und
ſein Schickſal ſich als ſeine Schuld beimaß und
ſich darin gefiel, in Ermangelung einer anderen
froheren Thaͤtigkeit, dieſe Schuld als ein koͤſt¬
liches Gut und Schoßkind zu haͤtſcheln, ohne wel¬
ches ihm das Elend unertraͤglich geweſen waͤre.
Seine Traumgedichte vergeſſend, brachte er dieſe
neue Leidſeligkeit in gereimte Wortzeilen und
feilte die folgenden mit ſo wehevollem Herzen
aus, als ob er die ſchlimmſten Dinge veruͤbt haͤtte:

O ich erkenn' das Ungluͤck ganz und gar
Und ſehe jedes Glied an ſeiner Kette!
Es iſt vernuͤnftig, liebenswuͤrdig klar!
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[266/0276] Dinge, unter anderen auch, wie ſie getraͤumt habe, daß Heinrich auf einem ſchoͤnen Pferde reitend in der Vaterſtadt angekommen und vor dem Hauſe abgeſtiegen ſei, was ſie fuͤr eine guͤn¬ ſtige Vorbedeutung halten wolle. Es war ihm unmoͤglich, auch nur eine Zeile zur Erwiederung hervorzubringen; dagegen folgte dem erſten Schmerz uͤber den ruͤhrenden Brief ein begieriges Aufſichladen einer verhaͤngnißvollen Verſchuldung, indem er ſein ganzes Leben und ſein Schickſal ſich als ſeine Schuld beimaß und ſich darin gefiel, in Ermangelung einer anderen froheren Thaͤtigkeit, dieſe Schuld als ein koͤſt¬ liches Gut und Schoßkind zu haͤtſcheln, ohne wel¬ ches ihm das Elend unertraͤglich geweſen waͤre. Seine Traumgedichte vergeſſend, brachte er dieſe neue Leidſeligkeit in gereimte Wortzeilen und feilte die folgenden mit ſo wehevollem Herzen aus, als ob er die ſchlimmſten Dinge veruͤbt haͤtte: O ich erkenn' das Ungluͤck ganz und gar Und ſehe jedes Glied an ſeiner Kette! Es iſt vernuͤnftig, liebenswuͤrdig klar! Kein Schlag, den ich nicht ganz verſchuldet haͤtte!

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/276>, abgerufen am 26.04.2024.