Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite
Viertes Kapitel.

Als Anna mit ihrem Vater noch spät sich
verabschiedete, war ich in dem Augenblicke nicht
zugegen und sie konnte mir daher nicht Adieu
sagen. Obgleich ich schmerzlich betroffen war, als
ich sie nicht mehr zugegen fand, überwog doch
mein junges Seelenglück; auf meiner Kammer
lag ich noch eine volle Stunde unter dem Fen¬
ster und sah die Gestirne ihren fernen Gang thun,
und die Wellen unter mir trugen das Monden¬
silber auf ihren klaren Schultern hastig und
kichernd zu Thal, als ob sie es gestohlen hätten,
warfen hier und da einige Schimmerstücke an's
Ufer, als ob sie ihnen zu schwer würden, und
sangen fort und fort ihr muthwilliges Wanderlied.
Auf meinem Munde lag es unsichtbar, aber süß
und warm und doch frisch und thaukühl.

II. 10
Viertes Kapitel.

Als Anna mit ihrem Vater noch ſpaͤt ſich
verabſchiedete, war ich in dem Augenblicke nicht
zugegen und ſie konnte mir daher nicht Adieu
ſagen. Obgleich ich ſchmerzlich betroffen war, als
ich ſie nicht mehr zugegen fand, uͤberwog doch
mein junges Seelengluͤck; auf meiner Kammer
lag ich noch eine volle Stunde unter dem Fen¬
ſter und ſah die Geſtirne ihren fernen Gang thun,
und die Wellen unter mir trugen das Monden¬
ſilber auf ihren klaren Schultern haſtig und
kichernd zu Thal, als ob ſie es geſtohlen haͤtten,
warfen hier und da einige Schimmerſtuͤcke an's
Ufer, als ob ſie ihnen zu ſchwer wuͤrden, und
ſangen fort und fort ihr muthwilliges Wanderlied.
Auf meinem Munde lag es unſichtbar, aber ſuͤß
und warm und doch friſch und thaukuͤhl.

II. 10
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0155" n="[145]"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b #g">Viertes Kapitel.</hi><lb/>
        </head>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Als Anna mit ihrem Vater noch &#x017F;pa&#x0364;t &#x017F;ich<lb/>
verab&#x017F;chiedete, war ich in dem Augenblicke nicht<lb/>
zugegen und &#x017F;ie konnte mir daher nicht Adieu<lb/>
&#x017F;agen. Obgleich ich &#x017F;chmerzlich betroffen war, als<lb/>
ich &#x017F;ie nicht mehr zugegen fand, u&#x0364;berwog doch<lb/>
mein junges Seelenglu&#x0364;ck; auf meiner Kammer<lb/>
lag ich noch eine volle Stunde unter dem Fen¬<lb/>
&#x017F;ter und &#x017F;ah die Ge&#x017F;tirne ihren fernen Gang thun,<lb/>
und die Wellen unter mir trugen das Monden¬<lb/>
&#x017F;ilber auf ihren klaren Schultern ha&#x017F;tig und<lb/>
kichernd zu Thal, als ob &#x017F;ie es ge&#x017F;tohlen ha&#x0364;tten,<lb/>
warfen hier und da einige Schimmer&#x017F;tu&#x0364;cke an's<lb/>
Ufer, als ob &#x017F;ie ihnen zu &#x017F;chwer wu&#x0364;rden, und<lb/>
&#x017F;angen fort und fort ihr muthwilliges Wanderlied.<lb/>
Auf meinem Munde lag es un&#x017F;ichtbar, aber &#x017F;u&#x0364;ß<lb/>
und warm und doch fri&#x017F;ch und thauku&#x0364;hl.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">II. 10<lb/></fw>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[145]/0155] Viertes Kapitel. Als Anna mit ihrem Vater noch ſpaͤt ſich verabſchiedete, war ich in dem Augenblicke nicht zugegen und ſie konnte mir daher nicht Adieu ſagen. Obgleich ich ſchmerzlich betroffen war, als ich ſie nicht mehr zugegen fand, uͤberwog doch mein junges Seelengluͤck; auf meiner Kammer lag ich noch eine volle Stunde unter dem Fen¬ ſter und ſah die Geſtirne ihren fernen Gang thun, und die Wellen unter mir trugen das Monden¬ ſilber auf ihren klaren Schultern haſtig und kichernd zu Thal, als ob ſie es geſtohlen haͤtten, warfen hier und da einige Schimmerſtuͤcke an's Ufer, als ob ſie ihnen zu ſchwer wuͤrden, und ſangen fort und fort ihr muthwilliges Wanderlied. Auf meinem Munde lag es unſichtbar, aber ſuͤß und warm und doch friſch und thaukuͤhl. II. 10

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/155
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. [145]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/155>, abgerufen am 21.11.2024.