dasjenige, welches, weil sein Urtheil nicht durch Be- griffe und Vorschriften bestimmbar ist, am meisten der Beyspiele dessen, was sich im Fortgange der Cultur am längsten in Beyfall erhalten hat, bedürftig ist, um nicht bald wieder ungeschlacht zu werden und in die Rohigkeit der ersten Versuche zurückzufallen.
§. 33. Zweyte Eigenthümlichkeit des Geschmacks- urtheils.
Das Geschmacksurtheil ist gar nicht durch Beweis- gründe bestimmbar, gleich als ob es blos subjectiv wäre.
Wenn jemand ein Gebäude, eine Aussicht, ein Ge- dicht nicht schön findet, so läßt er sich erstlich den Bey- fall nicht durch hundert Stimmen, die es alle hoch prei- sen, innerlich aufdringen. Er mag sich zwar anstellen, als ob es ihm auch gefalle, um nicht für geschmacklos angesehen zu werden; er kann sogar zu zweifeln anfan- gen, ob er seinen Geschmack, durch Kenntnis einer gnug- samen Menge von Gegenständen einer gewissen Art, auch genug gebildet habe, (wie einer, der in der Entfer- nung etwas für einen Wald zu erkennen glaubt, was alle andere für eine Stadt ansehen, an dem Urtheile seines eigenen Gesichts zweifelt,) das sieht er aber doch klar ein: daß der Beyfall anderer gar keinen für die der Schönheits-Beurtheilung gültigen Beweis abgebe und
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
dasjenige, welches, weil ſein Urtheil nicht durch Be- griffe und Vorſchriften beſtimmbar iſt, am meiſten der Beyſpiele deſſen, was ſich im Fortgange der Cultur am laͤngſten in Beyfall erhalten hat, beduͤrftig iſt, um nicht bald wieder ungeſchlacht zu werden und in die Rohigkeit der erſten Verſuche zuruͤckzufallen.
§. 33. Zweyte Eigenthuͤmlichkeit des Geſchmacks- urtheils.
Das Geſchmacksurtheil iſt gar nicht durch Beweis- gruͤnde beſtimmbar, gleich als ob es blos ſubjectiv waͤre.
Wenn jemand ein Gebaͤude, eine Ausſicht, ein Ge- dicht nicht ſchoͤn findet, ſo laͤßt er ſich erſtlich den Bey- fall nicht durch hundert Stimmen, die es alle hoch prei- ſen, innerlich aufdringen. Er mag ſich zwar anſtellen, als ob es ihm auch gefalle, um nicht fuͤr geſchmacklos angeſehen zu werden; er kann ſogar zu zweifeln anfan- gen, ob er ſeinen Geſchmack, durch Kenntnis einer gnug- ſamen Menge von Gegenſtaͤnden einer gewiſſen Art, auch genug gebildet habe, (wie einer, der in der Entfer- nung etwas fuͤr einen Wald zu erkennen glaubt, was alle andere fuͤr eine Stadt anſehen, an dem Urtheile ſeines eigenen Geſichts zweifelt,) das ſieht er aber doch klar ein: daß der Beyfall anderer gar keinen fuͤr die der Schoͤnheits-Beurtheilung guͤltigen Beweis abgebe und
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
dasjenige, welches, weil ſein Urtheil nicht durch Be-
griffe und Vorſchriften beſtimmbar iſt, am meiſten der
Beyſpiele deſſen, was ſich im Fortgange der Cultur am
laͤngſten in Beyfall erhalten hat, beduͤrftig iſt, um nicht
bald wieder ungeſchlacht zu werden und in die Rohigkeit
der erſten Verſuche zuruͤckzufallen.
§. 33.
Zweyte Eigenthuͤmlichkeit des Geſchmacks-
urtheils.
Das Geſchmacksurtheil iſt gar nicht durch Beweis-
gruͤnde beſtimmbar, gleich als ob es blos ſubjectiv
waͤre.
Wenn jemand ein Gebaͤude, eine Ausſicht, ein Ge-
dicht nicht ſchoͤn findet, ſo laͤßt er ſich erſtlich den Bey-
fall nicht durch hundert Stimmen, die es alle hoch prei-
ſen, innerlich aufdringen. Er mag ſich zwar anſtellen,
als ob es ihm auch gefalle, um nicht fuͤr geſchmacklos
angeſehen zu werden; er kann ſogar zu zweifeln anfan-
gen, ob er ſeinen Geſchmack, durch Kenntnis einer gnug-
ſamen Menge von Gegenſtaͤnden einer gewiſſen Art,
auch genug gebildet habe, (wie einer, der in der Entfer-
nung etwas fuͤr einen Wald zu erkennen glaubt, was
alle andere fuͤr eine Stadt anſehen, an dem Urtheile
ſeines eigenen Geſichts zweifelt,) das ſieht er aber doch
klar ein: daß der Beyfall anderer gar keinen fuͤr die der
Schoͤnheits-Beurtheilung guͤltigen Beweis abgebe und
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/202>, abgerufen am 20.11.2024.
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