Den 1. Mai 1772 des Nachmittags wanderte Stilling mit seiner Christine zu Fuß nach Schönenthal und Herr Friedenberg begleitete sie; die ganze Natur war still, der Himmel heiter, die Sonne schien über Berg und Thal, und ihre warmen Frühlingsstrahlen entfalteten Kräuter, Blätter und Blüthen. Stilling freute sich seines Lebens und seiner Schicksale, und er glaubte gewiß, jetzt würde sein Wirkungs- kreis groß und weit umfassend werden. Christine hoffte das Nämliche und Friedenberg schritt bald vorne, bald hinten langsam fort, rauchte seine Pfeife, und wie ihm etwas Wirthschaftliches einfiel, so sagte er's kurz und bündig, denn er glaubte, solche Erfahrungssätze würden den neuangehenden Hausleuten nützlich seyn. Als sie nun auf die Höhe kamen, von welcher sie Schönenthal übersehen konnten, so durch- schauerte Stillingen eine unbeschreibliche Empfindung, die er sich nicht erklären konnte; es ward ihm innig wohl und weh, und er schwieg still, betete, und stieg mit seiner Begleitung hinab.
Diese Stadt liegt in einem sehr anmuthigen Thal, welches von Morgen gegen Abend in gerader Linie fortläuft und von einem mittelmäßigen Flüßchen, der Wupper, durchströmt wird; den Sommer übersieht man das ganze Thal zwei Stun- den hinauf, bis an die Märkische Gränze mit leinen Garn, wie beschneit, und das Gewühl von thätigen und sich glück- lich nährenden Menschen ist unbeschreiblich; Alles steht voller einzelner Häuser, ein Garten, ein Baumhof stößt an den an- dern, und ein Spaziergang durch dieses Thal hinauf ist para- diesisch. Stilling träumte sich eine selige Zukunft, und unter diesen Träumen schritt er in's Getöse der Stadt hinein.
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Heinrich Stilling’s häusliches Leben.
Den 1. Mai 1772 des Nachmittags wanderte Stilling mit ſeiner Chriſtine zu Fuß nach Schoͤnenthal und Herr Friedenberg begleitete ſie; die ganze Natur war ſtill, der Himmel heiter, die Sonne ſchien uͤber Berg und Thal, und ihre warmen Fruͤhlingsſtrahlen entfalteten Kraͤuter, Blaͤtter und Bluͤthen. Stilling freute ſich ſeines Lebens und ſeiner Schickſale, und er glaubte gewiß, jetzt wuͤrde ſein Wirkungs- kreis groß und weit umfaſſend werden. Chriſtine hoffte das Naͤmliche und Friedenberg ſchritt bald vorne, bald hinten langſam fort, rauchte ſeine Pfeife, und wie ihm etwas Wirthſchaftliches einfiel, ſo ſagte er’s kurz und buͤndig, denn er glaubte, ſolche Erfahrungsſaͤtze wuͤrden den neuangehenden Hausleuten nuͤtzlich ſeyn. Als ſie nun auf die Hoͤhe kamen, von welcher ſie Schoͤnenthal uͤberſehen konnten, ſo durch- ſchauerte Stillingen eine unbeſchreibliche Empfindung, die er ſich nicht erklaͤren konnte; es ward ihm innig wohl und weh, und er ſchwieg ſtill, betete, und ſtieg mit ſeiner Begleitung hinab.
Dieſe Stadt liegt in einem ſehr anmuthigen Thal, welches von Morgen gegen Abend in gerader Linie fortlaͤuft und von einem mittelmaͤßigen Fluͤßchen, der Wupper, durchſtroͤmt wird; den Sommer uͤberſieht man das ganze Thal zwei Stun- den hinauf, bis an die Maͤrkiſche Graͤnze mit leinen Garn, wie beſchneit, und das Gewuͤhl von thaͤtigen und ſich gluͤck- lich naͤhrenden Menſchen iſt unbeſchreiblich; Alles ſteht voller einzelner Haͤuſer, ein Garten, ein Baumhof ſtoͤßt an den an- dern, und ein Spaziergang durch dieſes Thal hinauf iſt para- dieſiſch. Stilling traͤumte ſich eine ſelige Zukunft, und unter dieſen Traͤumen ſchritt er in’s Getoͤſe der Stadt hinein.
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Heinrich Stilling’s häusliches Leben.
Den 1. Mai 1772 des Nachmittags wanderte Stilling
mit ſeiner Chriſtine zu Fuß nach Schoͤnenthal und Herr
Friedenberg begleitete ſie; die ganze Natur war ſtill, der
Himmel heiter, die Sonne ſchien uͤber Berg und Thal, und
ihre warmen Fruͤhlingsſtrahlen entfalteten Kraͤuter, Blaͤtter und
Bluͤthen. Stilling freute ſich ſeines Lebens und ſeiner
Schickſale, und er glaubte gewiß, jetzt wuͤrde ſein Wirkungs-
kreis groß und weit umfaſſend werden. Chriſtine hoffte
das Naͤmliche und Friedenberg ſchritt bald vorne, bald
hinten langſam fort, rauchte ſeine Pfeife, und wie ihm etwas
Wirthſchaftliches einfiel, ſo ſagte er’s kurz und buͤndig, denn
er glaubte, ſolche Erfahrungsſaͤtze wuͤrden den neuangehenden
Hausleuten nuͤtzlich ſeyn. Als ſie nun auf die Hoͤhe kamen,
von welcher ſie Schoͤnenthal uͤberſehen konnten, ſo durch-
ſchauerte Stillingen eine unbeſchreibliche Empfindung, die
er ſich nicht erklaͤren konnte; es ward ihm innig wohl und
weh, und er ſchwieg ſtill, betete, und ſtieg mit ſeiner Begleitung
hinab.
Dieſe Stadt liegt in einem ſehr anmuthigen Thal, welches
von Morgen gegen Abend in gerader Linie fortlaͤuft und von
einem mittelmaͤßigen Fluͤßchen, der Wupper, durchſtroͤmt
wird; den Sommer uͤberſieht man das ganze Thal zwei Stun-
den hinauf, bis an die Maͤrkiſche Graͤnze mit leinen Garn,
wie beſchneit, und das Gewuͤhl von thaͤtigen und ſich gluͤck-
lich naͤhrenden Menſchen iſt unbeſchreiblich; Alles ſteht voller
einzelner Haͤuſer, ein Garten, ein Baumhof ſtoͤßt an den an-
dern, und ein Spaziergang durch dieſes Thal hinauf iſt para-
dieſiſch. Stilling traͤumte ſich eine ſelige Zukunft, und
unter dieſen Traͤumen ſchritt er in’s Getoͤſe der Stadt hinein.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. [295]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/303>, abgerufen am 21.11.2024.
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