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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
1. Vertheidigung in Form der Negation.

Dieselbe Alternative rücksichtlich der Beantwortung der durch
die Klage gestellten Frage, welche dem Richter gestellt ist, daß er
nämlich entweder schlechthin bejahen oder schlechthin verneinen
muß, gilt auch für den Beklagten. Auch ihm ist nur die Wahl
gelassen zwischen einem kategorischen Ja oder Nein, ohne das
ausweichende "Aber" der exceptio. Dem Ja folgt die Verurthei-
lung, dem Nein der Proceß. Ist mithin die Behauptung des
Klägers so gefaßt, daß der Beklagte sie nur bedingt oder theil-
weise einräumen kann, so bleibt ihm, wenn er seinem Recht
nichts vergeben will, nichts übrig, als sie schlechthin in Abrede
zu stellen und ebenso dem Richter, wenn er sich nicht überzeugt,
daß sie ihrem ganzen Umfang nach begründet ist, nichts übrig,
als den Kläger schlechthin abzuweisen. Die kleinste Abweichung
von der Wahrheit zu eignen Gunsten begründet mithin für den
Kläger den Verlust des ganzen Processes; die Strafe der plus
petitio
war eine nothwendige Consequenz der obigen Alternative
oder, was dasselbe, der intentio certa. Wo der Anspruch des
Klägers sich in seiner schließlichen Gestalt auf eine Geldsumme
reducirte, und man ihm billigerweise nicht zumuthen konnte, die-
selbe mit Gefahr der plus petitio selber anzusetzen, wußte man
in verschiedener Weise zu helfen, theils nämlich durch vorherige
Schätzung in Form eines praejudicium, wovon unten ein Bei-
spiel folgen wird, theils durch nachherige (arbitrium litis aesti-
mandae
), theils auf andere Weise. 43)

43) So nämlich bei den Delictsklagen, z. B. bei der act. leg. Aquiliae,
indem man dem Kläger für den Ansatz der Geldsumme ("tantum aes
dare domino damnas esto",
Worte der lex Aquilia L. 2 pr. ad leg. Aq.
9. 2),
wo sie erforderlich war (L. 25 §. 2 ibid.), einen so weiten Spielraum
gewährte (Werth des letzten Jahres bez. Monats), daß er es sich selbst zuzu-
schreiben hatte, wenn er eine plus petitio beging. Die act. furti lautete bloß
auf "pro fure damnum decidere oportere" Gaj. IV. 37, 45, womit die
bei jedem "dare oportere" erforderliche Angabe einer bestimmten Sache oder
Summe umgangen war.
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
1. Vertheidigung in Form der Negation.

Dieſelbe Alternative rückſichtlich der Beantwortung der durch
die Klage geſtellten Frage, welche dem Richter geſtellt iſt, daß er
nämlich entweder ſchlechthin bejahen oder ſchlechthin verneinen
muß, gilt auch für den Beklagten. Auch ihm iſt nur die Wahl
gelaſſen zwiſchen einem kategoriſchen Ja oder Nein, ohne das
ausweichende „Aber“ der exceptio. Dem Ja folgt die Verurthei-
lung, dem Nein der Proceß. Iſt mithin die Behauptung des
Klägers ſo gefaßt, daß der Beklagte ſie nur bedingt oder theil-
weiſe einräumen kann, ſo bleibt ihm, wenn er ſeinem Recht
nichts vergeben will, nichts übrig, als ſie ſchlechthin in Abrede
zu ſtellen und ebenſo dem Richter, wenn er ſich nicht überzeugt,
daß ſie ihrem ganzen Umfang nach begründet iſt, nichts übrig,
als den Kläger ſchlechthin abzuweiſen. Die kleinſte Abweichung
von der Wahrheit zu eignen Gunſten begründet mithin für den
Kläger den Verluſt des ganzen Proceſſes; die Strafe der plus
petitio
war eine nothwendige Conſequenz der obigen Alternative
oder, was daſſelbe, der intentio certa. Wo der Anſpruch des
Klägers ſich in ſeiner ſchließlichen Geſtalt auf eine Geldſumme
reducirte, und man ihm billigerweiſe nicht zumuthen konnte, die-
ſelbe mit Gefahr der plus petitio ſelber anzuſetzen, wußte man
in verſchiedener Weiſe zu helfen, theils nämlich durch vorherige
Schätzung in Form eines praejudicium, wovon unten ein Bei-
ſpiel folgen wird, theils durch nachherige (arbitrium litis aesti-
mandae
), theils auf andere Weiſe. 43)

43) So nämlich bei den Delictsklagen, z. B. bei der act. leg. Aquiliae,
indem man dem Kläger für den Anſatz der Geldſumme (tantum aes
dare domino damnas esto“,
Worte der lex Aquilia L. 2 pr. ad leg. Aq.
9. 2),
wo ſie erforderlich war (L. 25 §. 2 ibid.), einen ſo weiten Spielraum
gewährte (Werth des letzten Jahres bez. Monats), daß er es ſich ſelbſt zuzu-
ſchreiben hatte, wenn er eine plus petitio beging. Die act. furti lautete bloß
auf „pro fure damnum decidere oportere“ Gaj. IV. 37, 45, womit die
bei jedem dare oportere“ erforderliche Angabe einer beſtimmten Sache oder
Summe umgangen war.
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[56/0072] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. 1. Vertheidigung in Form der Negation. Dieſelbe Alternative rückſichtlich der Beantwortung der durch die Klage geſtellten Frage, welche dem Richter geſtellt iſt, daß er nämlich entweder ſchlechthin bejahen oder ſchlechthin verneinen muß, gilt auch für den Beklagten. Auch ihm iſt nur die Wahl gelaſſen zwiſchen einem kategoriſchen Ja oder Nein, ohne das ausweichende „Aber“ der exceptio. Dem Ja folgt die Verurthei- lung, dem Nein der Proceß. Iſt mithin die Behauptung des Klägers ſo gefaßt, daß der Beklagte ſie nur bedingt oder theil- weiſe einräumen kann, ſo bleibt ihm, wenn er ſeinem Recht nichts vergeben will, nichts übrig, als ſie ſchlechthin in Abrede zu ſtellen und ebenſo dem Richter, wenn er ſich nicht überzeugt, daß ſie ihrem ganzen Umfang nach begründet iſt, nichts übrig, als den Kläger ſchlechthin abzuweiſen. Die kleinſte Abweichung von der Wahrheit zu eignen Gunſten begründet mithin für den Kläger den Verluſt des ganzen Proceſſes; die Strafe der plus petitio war eine nothwendige Conſequenz der obigen Alternative oder, was daſſelbe, der intentio certa. Wo der Anſpruch des Klägers ſich in ſeiner ſchließlichen Geſtalt auf eine Geldſumme reducirte, und man ihm billigerweiſe nicht zumuthen konnte, die- ſelbe mit Gefahr der plus petitio ſelber anzuſetzen, wußte man in verſchiedener Weiſe zu helfen, theils nämlich durch vorherige Schätzung in Form eines praejudicium, wovon unten ein Bei- ſpiel folgen wird, theils durch nachherige (arbitrium litis aesti- mandae), theils auf andere Weiſe. 43) 43) So nämlich bei den Delictsklagen, z. B. bei der act. leg. Aquiliae, indem man dem Kläger für den Anſatz der Geldſumme („tantum aes dare domino damnas esto“, Worte der lex Aquilia L. 2 pr. ad leg. Aq. 9. 2), wo ſie erforderlich war (L. 25 §. 2 ibid.), einen ſo weiten Spielraum gewährte (Werth des letzten Jahres bez. Monats), daß er es ſich ſelbſt zuzu- ſchreiben hatte, wenn er eine plus petitio beging. Die act. furti lautete bloß auf „pro fure damnum decidere oportere“ Gaj. IV. 37, 45, womit die bei jedem „dare oportere“ erforderliche Angabe einer beſtimmten Sache oder Summe umgangen war.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/72>, abgerufen am 30.12.2024.