Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
wegs der Fall ist, da die Subjectivität des Richters hier einen ungleich größeren Spielraum hat. Gefährlich für den Unkun- digen und Unvorsichtigen, war jene Strenge der Interpretation für den Kundigen und Vorsichtigen eher vortheilhaft, als nach- theilig.
Schließlich darf ich den Antheil nicht übergehen, den die- selbe an der für das römische Recht so einflußreichen Ausbil- dung einer festen und prägnanten Kunstsprache hatte. Die Kunstsprache des Verkehrs wird allerdings nicht von der Juris- prudenz, sondern von dem Verkehr selbst gemacht, allein die Ju- risprudenz kann ihn dazu zwingen, und das war eben in Rom der Fall. Die scharfe Abgränzung der von dem Verkehr benutz- ten Worte wie z. B. von dare und facere wird zuerst von den Juristen geschehen sein, allein wirkliche Realität erhielt sie erst dadurch, daß der Verkehr sie respectirte oder respectiren mußte. Aus demselben Grunde erklärt sich auch die in der literarischen Thätigkeit der römischen Juristen, namentlich gegenüber der unserer heutigen, so entschieden hervortretende juristisch-lexi- kalische Richtung, ihre Erörterungen de verborum significa- tione, de verbis priscis u. s. w.
2. Interpretation der Gesetze.
Ein Mißgriff in den Worten gereicht bei dem Rechts- geschäfte bloß einer einzelnen Person zum Nachtheil und in der Regel nicht ohne eignes Verschulden, und der Schaden, den er erzeugt, ist ein vorübergehender. Ganz anders bei gleichem Mißgriff von Seiten des Gesetzgebers, denn nicht bloß trifft der Schaden hier eine unbegränzte Zahl schuldloser Personen, sondern das Uebel ist, wenn das Gesetz nicht aufgehoben wird, ein dauerndes. In dieser Verschiedenheit mag es liegen, daß, während an und für sich die Interpretation der Rechtsgeschäfte und Gesetze unter denselben Grundsätzen steht, die alte Juris- prudenz sich veranlaßt gefunden hat, die Strenge, die sie dort zur Anwendung brachte, hier in etwas zu ermäßigen. Aller-
Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 31
Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
wegs der Fall iſt, da die Subjectivität des Richters hier einen ungleich größeren Spielraum hat. Gefährlich für den Unkun- digen und Unvorſichtigen, war jene Strenge der Interpretation für den Kundigen und Vorſichtigen eher vortheilhaft, als nach- theilig.
Schließlich darf ich den Antheil nicht übergehen, den die- ſelbe an der für das römiſche Recht ſo einflußreichen Ausbil- dung einer feſten und prägnanten Kunſtſprache hatte. Die Kunſtſprache des Verkehrs wird allerdings nicht von der Juris- prudenz, ſondern von dem Verkehr ſelbſt gemacht, allein die Ju- risprudenz kann ihn dazu zwingen, und das war eben in Rom der Fall. Die ſcharfe Abgränzung der von dem Verkehr benutz- ten Worte wie z. B. von dare und facere wird zuerſt von den Juriſten geſchehen ſein, allein wirkliche Realität erhielt ſie erſt dadurch, daß der Verkehr ſie reſpectirte oder reſpectiren mußte. Aus demſelben Grunde erklärt ſich auch die in der literariſchen Thätigkeit der römiſchen Juriſten, namentlich gegenüber der unſerer heutigen, ſo entſchieden hervortretende juriſtiſch-lexi- kaliſche Richtung, ihre Erörterungen de verborum significa- tione, de verbis priscis u. ſ. w.
2. Interpretation der Geſetze.
Ein Mißgriff in den Worten gereicht bei dem Rechts- geſchäfte bloß einer einzelnen Perſon zum Nachtheil und in der Regel nicht ohne eignes Verſchulden, und der Schaden, den er erzeugt, iſt ein vorübergehender. Ganz anders bei gleichem Mißgriff von Seiten des Geſetzgebers, denn nicht bloß trifft der Schaden hier eine unbegränzte Zahl ſchuldloſer Perſonen, ſondern das Uebel iſt, wenn das Geſetz nicht aufgehoben wird, ein dauerndes. In dieſer Verſchiedenheit mag es liegen, daß, während an und für ſich die Interpretation der Rechtsgeſchäfte und Geſetze unter denſelben Grundſätzen ſteht, die alte Juris- prudenz ſich veranlaßt gefunden hat, die Strenge, die ſie dort zur Anwendung brachte, hier in etwas zu ermäßigen. Aller-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 31
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Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
wegs der Fall iſt, da die Subjectivität des Richters hier einen
ungleich größeren Spielraum hat. Gefährlich für den Unkun-
digen und Unvorſichtigen, war jene Strenge der Interpretation
für den Kundigen und Vorſichtigen eher vortheilhaft, als nach-
theilig.
Schließlich darf ich den Antheil nicht übergehen, den die-
ſelbe an der für das römiſche Recht ſo einflußreichen Ausbil-
dung einer feſten und prägnanten Kunſtſprache hatte. Die
Kunſtſprache des Verkehrs wird allerdings nicht von der Juris-
prudenz, ſondern von dem Verkehr ſelbſt gemacht, allein die Ju-
risprudenz kann ihn dazu zwingen, und das war eben in Rom
der Fall. Die ſcharfe Abgränzung der von dem Verkehr benutz-
ten Worte wie z. B. von dare und facere wird zuerſt von den
Juriſten geſchehen ſein, allein wirkliche Realität erhielt ſie erſt
dadurch, daß der Verkehr ſie reſpectirte oder reſpectiren mußte.
Aus demſelben Grunde erklärt ſich auch die in der literariſchen
Thätigkeit der römiſchen Juriſten, namentlich gegenüber der
unſerer heutigen, ſo entſchieden hervortretende juriſtiſch-lexi-
kaliſche Richtung, ihre Erörterungen de verborum significa-
tione, de verbis priscis u. ſ. w.
2. Interpretation der Geſetze.
Ein Mißgriff in den Worten gereicht bei dem Rechts-
geſchäfte bloß einer einzelnen Perſon zum Nachtheil und in der
Regel nicht ohne eignes Verſchulden, und der Schaden, den er
erzeugt, iſt ein vorübergehender. Ganz anders bei gleichem
Mißgriff von Seiten des Geſetzgebers, denn nicht bloß trifft
der Schaden hier eine unbegränzte Zahl ſchuldloſer Perſonen,
ſondern das Uebel iſt, wenn das Geſetz nicht aufgehoben wird,
ein dauerndes. In dieſer Verſchiedenheit mag es liegen, daß,
während an und für ſich die Interpretation der Rechtsgeſchäfte
und Geſetze unter denſelben Grundſätzen ſteht, die alte Juris-
prudenz ſich veranlaßt gefunden hat, die Strenge, die ſie dort
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/187>, abgerufen am 23.02.2025.
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