Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.VII. Religion. Historischer Blick auf die Art, wie die Staaten sich der Religion bedient haben. Ausser der eigentlichen Erziehung der Jugend gibt es noch VII. Religion. Historischer Blick auf die Art, wie die Staaten sich der Religion bedient haben. Ausser der eigentlichen Erziehung der Jugend gibt es noch <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0097" n="61"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">VII.<lb/> Religion.</hi> </head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <argument> <p>Historischer Blick auf die Art, wie die Staaten sich der Religion bedient haben.<lb/> — Jedes Einmischen des Staats in die Religion führt Begünstigung gewisser Mei-<lb/> nungen, mit Ausschliessung andrer, und einen Grad der Leitung der Bürger mit<lb/> sich. — Allgemeine Betrachtungen über den Einfluss der Religion auf den Geist<lb/> und den Charakter des Menschen. — Religion und Moralität sind nicht unzertrenn-<lb/> lich mit einander verbunden. Denn — der Ursprung aller Religionen ist gänz-<lb/> lich subjektiv; — Religiosität und der gänzliche Mangel derselben können gleich<lb/> wohlthätige Folgen für die Moralität hervorbringen; — die Grundsätze der Moral<lb/> sind von der Religion völlig unabhängig; — und die Wirksamkeit aller Religion<lb/> beruht allein auf der individuellen Beschaffenheit des Menschen; — so dass das-<lb/> jenige, was allein auf die Moralität wirkt, nicht der Inhalt gleichsam der Reli-<lb/> gionssysteme ist, sondern die Form des innern Annehmens derselben. — Anwen-<lb/> dung dieser Betrachtungen auf die gegenwärtige Untersuchung, und Prüfung der<lb/> Frage: ob der Staat sich der Religion, als eines Wirkungsmittels bedienen müsse?<lb/> — Alle Beförderung der Religion durch den Staat bringt aufs Höchste gesetz-<lb/> mässige Handlungen hervor. — Dieser Erfolg aber darf dem Staate nicht genü-<lb/> gen, welcher die Bürger dem Gesetze folgsam, nicht blos ihre Handlungen mit<lb/> demselben übereinstimmend machen soll. — Derselbe ist auch an sich ungewiss,<lb/> sogar unwahrscheinlich, und wenigstens durch andere Mittel besser erreichbar,<lb/> als durch jenes. — Jenes Mittel führt überdies so überwiegende Nachtheile mit<lb/> sich, dass schon diese den Gebrauch desselben gänzlich verbieten. — Gelegent-<lb/> liche Beantwortung eines hiebei möglichen, von dem Mangel an Kultur mehrerer<lb/> Volksklassen hergenommenen Einwurfs. — Endlich, was die Sache aus den<lb/> höchsten und allgemeinsten Gesichtspunkten entscheidet, ist dem Staat gerade<lb/> zu dem Einzigen, was wahrhaft auf die Moralität wirkt, zu der Form des innern<lb/> Annehmens von Religionsbegriffen, der Zugang gänzlich verschlossen. — Daher<lb/> liegt alles, was die Religion betrifft, ausserhalb der Gränzen der Wirksamkeit<lb/> des Staats.</p> </argument><lb/> <p>Ausser der eigentlichen Erziehung der Jugend gibt es noch<lb/> ein anderes Mittel auf den Charakter und die Sitten der Nation<lb/> zu wirken, durch welches der Staat gleichsam den erwachsenen,<lb/> reif gewordenen Menschen erzieht, sein ganzes Leben hindurch<lb/> seine Handlungsweise und Denkungsart begleitet, und dersel-<lb/> ben diese oder jene Richtung zu ertheilen, oder sie wenigstens<lb/> vor diesem oder jenem Abwege zu bewahren versucht — die<lb/> Religion. Alle Staaten, soviel uns die Geschichte aufzeigt,<lb/> haben sich dieses Mittels, obgleich in sehr verschiedener Ab-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [61/0097]
VII.
Religion.
Historischer Blick auf die Art, wie die Staaten sich der Religion bedient haben.
— Jedes Einmischen des Staats in die Religion führt Begünstigung gewisser Mei-
nungen, mit Ausschliessung andrer, und einen Grad der Leitung der Bürger mit
sich. — Allgemeine Betrachtungen über den Einfluss der Religion auf den Geist
und den Charakter des Menschen. — Religion und Moralität sind nicht unzertrenn-
lich mit einander verbunden. Denn — der Ursprung aller Religionen ist gänz-
lich subjektiv; — Religiosität und der gänzliche Mangel derselben können gleich
wohlthätige Folgen für die Moralität hervorbringen; — die Grundsätze der Moral
sind von der Religion völlig unabhängig; — und die Wirksamkeit aller Religion
beruht allein auf der individuellen Beschaffenheit des Menschen; — so dass das-
jenige, was allein auf die Moralität wirkt, nicht der Inhalt gleichsam der Reli-
gionssysteme ist, sondern die Form des innern Annehmens derselben. — Anwen-
dung dieser Betrachtungen auf die gegenwärtige Untersuchung, und Prüfung der
Frage: ob der Staat sich der Religion, als eines Wirkungsmittels bedienen müsse?
— Alle Beförderung der Religion durch den Staat bringt aufs Höchste gesetz-
mässige Handlungen hervor. — Dieser Erfolg aber darf dem Staate nicht genü-
gen, welcher die Bürger dem Gesetze folgsam, nicht blos ihre Handlungen mit
demselben übereinstimmend machen soll. — Derselbe ist auch an sich ungewiss,
sogar unwahrscheinlich, und wenigstens durch andere Mittel besser erreichbar,
als durch jenes. — Jenes Mittel führt überdies so überwiegende Nachtheile mit
sich, dass schon diese den Gebrauch desselben gänzlich verbieten. — Gelegent-
liche Beantwortung eines hiebei möglichen, von dem Mangel an Kultur mehrerer
Volksklassen hergenommenen Einwurfs. — Endlich, was die Sache aus den
höchsten und allgemeinsten Gesichtspunkten entscheidet, ist dem Staat gerade
zu dem Einzigen, was wahrhaft auf die Moralität wirkt, zu der Form des innern
Annehmens von Religionsbegriffen, der Zugang gänzlich verschlossen. — Daher
liegt alles, was die Religion betrifft, ausserhalb der Gränzen der Wirksamkeit
des Staats.
Ausser der eigentlichen Erziehung der Jugend gibt es noch
ein anderes Mittel auf den Charakter und die Sitten der Nation
zu wirken, durch welches der Staat gleichsam den erwachsenen,
reif gewordenen Menschen erzieht, sein ganzes Leben hindurch
seine Handlungsweise und Denkungsart begleitet, und dersel-
ben diese oder jene Richtung zu ertheilen, oder sie wenigstens
vor diesem oder jenem Abwege zu bewahren versucht — die
Religion. Alle Staaten, soviel uns die Geschichte aufzeigt,
haben sich dieses Mittels, obgleich in sehr verschiedener Ab-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeWilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr] Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |