Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

und war sie allein, so schalt sie sich selbst, und sagte
sich, daß sie falsch gesehn und zu viel gesehn habe,
daß ein Mann sich mit Gedanken trage, die ihn zer¬
streuten und selbst bis zu seiner Geliebten verfolgten.
Auch wußte sie, daß ihm der Zwang vor der Mutter
immer unerträglicher wurde. Und doch brach auf Au¬
genblicke das Gefühl des bittersten Kummers durch
und verschloß ihr gerade jetzt den Mund und das
Herz, wo Worte so nöthig gewesen wären. Sie hoffte
auch nichts von Fragen, und Vorwürfen wollte sie
nichts zu danken haben. Sie war ohne heftigen
Schmerz, wie abgestorben, daß sie seine Nähe nicht
fühlte und doch einen tödtlichen Stoß empfangen hätte,
wenn er gegangen wäre.

So stehen sie in unseliger Täuschung einander ge¬
genüber. Er greift schon nach dem Hut, um dem
unerträglichen Zustand ein Ende zu machen, als die
Mutter hereintritt. Er muß bleiben; Lichter werden
gebracht, die Frauen setzen sich, während er einsilbig
steht, sich selbst und sein elendes Geschick tausendmal
verwünschend. Und wie sich in solchen Stunden alles
Widerwärtige häuft, kommt die Mntter von neuem
auf Edwards Monument zu sprechen. Er kann nicht
verschweigen, daß es ihm heut zum ersten Mal auf¬
gedeckt worden, und muß Gegenstand und Art der
Darstellung beschreiben. Er belebte sich wieder ein
wenig. Es ist unvergleichlich, sagt er; ich kann nicht

und war ſie allein, ſo ſchalt ſie ſich ſelbſt, und ſagte
ſich, daß ſie falſch geſehn und zu viel geſehn habe,
daß ein Mann ſich mit Gedanken trage, die ihn zer¬
ſtreuten und ſelbſt bis zu ſeiner Geliebten verfolgten.
Auch wußte ſie, daß ihm der Zwang vor der Mutter
immer unerträglicher wurde. Und doch brach auf Au¬
genblicke das Gefühl des bitterſten Kummers durch
und verſchloß ihr gerade jetzt den Mund und das
Herz, wo Worte ſo nöthig geweſen wären. Sie hoffte
auch nichts von Fragen, und Vorwürfen wollte ſie
nichts zu danken haben. Sie war ohne heftigen
Schmerz, wie abgeſtorben, daß ſie ſeine Nähe nicht
fühlte und doch einen tödtlichen Stoß empfangen hätte,
wenn er gegangen wäre.

So ſtehen ſie in unſeliger Täuſchung einander ge¬
genüber. Er greift ſchon nach dem Hut, um dem
unerträglichen Zuſtand ein Ende zu machen, als die
Mutter hereintritt. Er muß bleiben; Lichter werden
gebracht, die Frauen ſetzen ſich, während er einſilbig
ſteht, ſich ſelbſt und ſein elendes Geſchick tauſendmal
verwünſchend. Und wie ſich in ſolchen Stunden alles
Widerwärtige häuft, kommt die Mntter von neuem
auf Edwards Monument zu ſprechen. Er kann nicht
verſchweigen, daß es ihm heut zum erſten Mal auf¬
gedeckt worden, und muß Gegenſtand und Art der
Darſtellung beſchreiben. Er belebte ſich wieder ein
wenig. Es iſt unvergleichlich, ſagt er; ich kann nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0216" n="204"/>
und war &#x017F;ie allein, &#x017F;o &#x017F;chalt &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, und &#x017F;agte<lb/>
&#x017F;ich, daß &#x017F;ie fal&#x017F;ch ge&#x017F;ehn und zu viel ge&#x017F;ehn habe,<lb/>
daß ein Mann &#x017F;ich mit Gedanken trage, die ihn zer¬<lb/>
&#x017F;treuten und &#x017F;elb&#x017F;t bis zu &#x017F;einer Geliebten verfolgten.<lb/>
Auch wußte &#x017F;ie, daß ihm der Zwang vor der Mutter<lb/>
immer unerträglicher wurde. Und doch brach auf Au¬<lb/>
genblicke das Gefühl des bitter&#x017F;ten Kummers durch<lb/>
und ver&#x017F;chloß ihr gerade jetzt den Mund und das<lb/>
Herz, wo Worte &#x017F;o nöthig gewe&#x017F;en wären. Sie hoffte<lb/>
auch nichts von Fragen, und Vorwürfen wollte &#x017F;ie<lb/>
nichts zu danken haben. Sie war ohne heftigen<lb/>
Schmerz, wie abge&#x017F;torben, daß &#x017F;ie &#x017F;eine Nähe nicht<lb/>
fühlte und doch einen tödtlichen Stoß empfangen hätte,<lb/>
wenn er gegangen wäre.</p><lb/>
        <p>So &#x017F;tehen &#x017F;ie in un&#x017F;eliger Täu&#x017F;chung einander ge¬<lb/>
genüber. Er greift &#x017F;chon nach dem Hut, um dem<lb/>
unerträglichen Zu&#x017F;tand ein Ende zu machen, als die<lb/>
Mutter hereintritt. Er muß bleiben; Lichter werden<lb/>
gebracht, die Frauen &#x017F;etzen &#x017F;ich, während er ein&#x017F;ilbig<lb/>
&#x017F;teht, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t und &#x017F;ein elendes Ge&#x017F;chick tau&#x017F;endmal<lb/>
verwün&#x017F;chend. Und wie &#x017F;ich in &#x017F;olchen Stunden alles<lb/>
Widerwärtige häuft, kommt die Mntter von neuem<lb/>
auf Edwards Monument zu &#x017F;prechen. Er kann nicht<lb/>
ver&#x017F;chweigen, daß es ihm heut zum er&#x017F;ten Mal auf¬<lb/>
gedeckt worden, und muß Gegen&#x017F;tand und Art der<lb/>
Dar&#x017F;tellung be&#x017F;chreiben. Er belebte &#x017F;ich wieder ein<lb/>
wenig. Es i&#x017F;t unvergleichlich, &#x017F;agt er; ich kann nicht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[204/0216] und war ſie allein, ſo ſchalt ſie ſich ſelbſt, und ſagte ſich, daß ſie falſch geſehn und zu viel geſehn habe, daß ein Mann ſich mit Gedanken trage, die ihn zer¬ ſtreuten und ſelbſt bis zu ſeiner Geliebten verfolgten. Auch wußte ſie, daß ihm der Zwang vor der Mutter immer unerträglicher wurde. Und doch brach auf Au¬ genblicke das Gefühl des bitterſten Kummers durch und verſchloß ihr gerade jetzt den Mund und das Herz, wo Worte ſo nöthig geweſen wären. Sie hoffte auch nichts von Fragen, und Vorwürfen wollte ſie nichts zu danken haben. Sie war ohne heftigen Schmerz, wie abgeſtorben, daß ſie ſeine Nähe nicht fühlte und doch einen tödtlichen Stoß empfangen hätte, wenn er gegangen wäre. So ſtehen ſie in unſeliger Täuſchung einander ge¬ genüber. Er greift ſchon nach dem Hut, um dem unerträglichen Zuſtand ein Ende zu machen, als die Mutter hereintritt. Er muß bleiben; Lichter werden gebracht, die Frauen ſetzen ſich, während er einſilbig ſteht, ſich ſelbſt und ſein elendes Geſchick tauſendmal verwünſchend. Und wie ſich in ſolchen Stunden alles Widerwärtige häuft, kommt die Mntter von neuem auf Edwards Monument zu ſprechen. Er kann nicht verſchweigen, daß es ihm heut zum erſten Mal auf¬ gedeckt worden, und muß Gegenſtand und Art der Darſtellung beſchreiben. Er belebte ſich wieder ein wenig. Es iſt unvergleichlich, ſagt er; ich kann nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/216
Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/216>, abgerufen am 26.04.2024.