Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite
Kritische Wälder.
Ueber die Reichsgeschichte:
ein historischer Spatziergang.


Was müßte ein vernünftiger Alter denken,
wenn er auflebte, und unsre Geschichte be-
trachtete? Die Lehren unsrer historischen Kunst,
und den Kontrast in Ausübung derselben? --
Doch, ach! wenn dies nur der einzige unverant-
wortliche Wiederspruch in unsrer Litteratur zwi-
schen Lehren und Thaten wäre!

Die Alten, Griechen und Römer, haben uns
so vortrefliche Muster der Geschichte hinterlassen,
daß es ein canonisirter Spruch geworden: hos se-
quere!
und wer wäre es, dem man diesen Spruch,
und das nachahmungswürdige Schöne ihrer Histo-
riographie erst vorbeweisen müßte. Warum zie-
het der kleine südliche Strich von Europa, Grie-
chenland und Rom, Jahrhunderte durch die Au-
gen aller Welt so auf sich? Warum gehen wir an
die Geschichte der mittlern Zeiten, im Occidente und
so gar im Oriente, so ungern daran? Warum ist in
dem Körper unsrer Welthistorie die Beschreibung
dieser beiden Völker uns gewiß nicht blos Natio-
nalgeschichte, Thaten, die im Winkel geschehen,
sondern Merkwürdigkeiten der Welt? -- --
Eine kleine Vergleichung mit andern Zeiten und

Ge-
Kritiſche Waͤlder.
Ueber die Reichsgeſchichte:
ein hiſtoriſcher Spatziergang.


Was muͤßte ein vernuͤnftiger Alter denken,
wenn er auflebte, und unſre Geſchichte be-
trachtete? Die Lehren unſrer hiſtoriſchen Kunſt,
und den Kontraſt in Ausuͤbung derſelben? —
Doch, ach! wenn dies nur der einzige unverant-
wortliche Wiederſpruch in unſrer Litteratur zwi-
ſchen Lehren und Thaten waͤre!

Die Alten, Griechen und Roͤmer, haben uns
ſo vortrefliche Muſter der Geſchichte hinterlaſſen,
daß es ein canoniſirter Spruch geworden: hos ſe-
quere!
und wer waͤre es, dem man dieſen Spruch,
und das nachahmungswuͤrdige Schoͤne ihrer Hiſto-
riographie erſt vorbeweiſen muͤßte. Warum zie-
het der kleine ſuͤdliche Strich von Europa, Grie-
chenland und Rom, Jahrhunderte durch die Au-
gen aller Welt ſo auf ſich? Warum gehen wir an
die Geſchichte der mittlern Zeiten, im Occidente und
ſo gar im Oriente, ſo ungern daran? Warum iſt in
dem Koͤrper unſrer Welthiſtorie die Beſchreibung
dieſer beiden Voͤlker uns gewiß nicht blos Natio-
nalgeſchichte, Thaten, die im Winkel geſchehen,
ſondern Merkwuͤrdigkeiten der Welt? — —
Eine kleine Vergleichung mit andern Zeiten und

Ge-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0162" n="156"/>
      <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi> </fw><lb/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Ueber die Reichsge&#x017F;chichte:<lb/><hi rendition="#g">ein hi&#x017F;tori&#x017F;cher Spatziergang</hi>.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p><hi rendition="#in">W</hi>as mu&#x0364;ßte ein vernu&#x0364;nftiger Alter denken,<lb/>
wenn er auflebte, und un&#x017F;re Ge&#x017F;chichte be-<lb/>
trachtete? Die Lehren un&#x017F;rer hi&#x017F;tori&#x017F;chen Kun&#x017F;t,<lb/>
und den Kontra&#x017F;t in Ausu&#x0364;bung der&#x017F;elben? &#x2014;<lb/>
Doch, ach! wenn dies nur der einzige unverant-<lb/>
wortliche Wieder&#x017F;pruch in un&#x017F;rer Litteratur zwi-<lb/>
&#x017F;chen Lehren und Thaten wa&#x0364;re!</p><lb/>
        <p>Die Alten, Griechen und Ro&#x0364;mer, haben uns<lb/>
&#x017F;o vortrefliche Mu&#x017F;ter der Ge&#x017F;chichte hinterla&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
daß es ein canoni&#x017F;irter Spruch geworden: <hi rendition="#aq">hos &#x017F;e-<lb/>
quere!</hi> und wer wa&#x0364;re es, dem man die&#x017F;en Spruch,<lb/>
und das nachahmungswu&#x0364;rdige Scho&#x0364;ne ihrer Hi&#x017F;to-<lb/>
riographie er&#x017F;t vorbewei&#x017F;en mu&#x0364;ßte. Warum zie-<lb/>
het der kleine &#x017F;u&#x0364;dliche Strich von Europa, Grie-<lb/>
chenland und Rom, Jahrhunderte durch die Au-<lb/>
gen aller Welt &#x017F;o auf &#x017F;ich? Warum gehen wir an<lb/>
die Ge&#x017F;chichte der mittlern Zeiten, im Occidente und<lb/>
&#x017F;o gar im Oriente, &#x017F;o ungern daran? Warum i&#x017F;t in<lb/>
dem Ko&#x0364;rper un&#x017F;rer Welthi&#x017F;torie die Be&#x017F;chreibung<lb/>
die&#x017F;er beiden Vo&#x0364;lker uns gewiß nicht blos Natio-<lb/>
nalge&#x017F;chichte, Thaten, die im Winkel ge&#x017F;chehen,<lb/>
&#x017F;ondern Merkwu&#x0364;rdigkeiten der Welt? &#x2014; &#x2014;<lb/>
Eine kleine Vergleichung mit andern Zeiten und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ge-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[156/0162] Kritiſche Waͤlder. Ueber die Reichsgeſchichte: ein hiſtoriſcher Spatziergang. Was muͤßte ein vernuͤnftiger Alter denken, wenn er auflebte, und unſre Geſchichte be- trachtete? Die Lehren unſrer hiſtoriſchen Kunſt, und den Kontraſt in Ausuͤbung derſelben? — Doch, ach! wenn dies nur der einzige unverant- wortliche Wiederſpruch in unſrer Litteratur zwi- ſchen Lehren und Thaten waͤre! Die Alten, Griechen und Roͤmer, haben uns ſo vortrefliche Muſter der Geſchichte hinterlaſſen, daß es ein canoniſirter Spruch geworden: hos ſe- quere! und wer waͤre es, dem man dieſen Spruch, und das nachahmungswuͤrdige Schoͤne ihrer Hiſto- riographie erſt vorbeweiſen muͤßte. Warum zie- het der kleine ſuͤdliche Strich von Europa, Grie- chenland und Rom, Jahrhunderte durch die Au- gen aller Welt ſo auf ſich? Warum gehen wir an die Geſchichte der mittlern Zeiten, im Occidente und ſo gar im Oriente, ſo ungern daran? Warum iſt in dem Koͤrper unſrer Welthiſtorie die Beſchreibung dieſer beiden Voͤlker uns gewiß nicht blos Natio- nalgeſchichte, Thaten, die im Winkel geſchehen, ſondern Merkwuͤrdigkeiten der Welt? — — Eine kleine Vergleichung mit andern Zeiten und Ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769/162
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769/162>, abgerufen am 21.12.2024.