Götter: ich sehe sichtbar seyn wollende Phantome! Mit einer solchen Hypothese ist meine beste mytholo- gische und poetische, und Kunstentzückung getödtet! Jch mag die ketzerische Neuigkeit nicht: ich bleibe bei der alten griechischen Rechtgläubigkeit.
14.
"Auch die Größe der homerischen Götter kann "der Maler nicht nachahmen!" und was Hr. L. darüber sagt a), läuft auf die drei Ursachen hinaus: daß in der Malerei weniger das Wunderbare der poetischen Einbildung, sondern mehr die Gewohnheit zu sehen, die anschauliche Wahrheit des Auges herrsche: zweitens, daß, da die Malerei innerhalb einem Raume arbeitet, auch mehr die Proportion und Disproportion in Betracht komme, als bei dem Dichter, dessen Einbildungskraft in allen Welten des Möglichen und Wirklichen, nicht bloß also zwi- schen Himmel und Erde, und am wenigsten zwischen vier engen Seiten wirket. -- Drittens, daß, wo die Größe durch Kraft, Stärke, Schnelligkeit vom Dichter ausgedrückt werden konnten, der Maler in diesem Ausdrucke ihm ganz nachbleibe, da er, der für den Raum arbeitet, nicht eben Kraft, und der, der für seinen Anblick arbeitet, nicht eben Schnel- ligkeit der Bewegung zum Mittelpunkte seiner Wirk- samkeit machen kann. -- Es könnte diesen Ursa-
chen
a)p. 131 -- 136. Laok.
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Erſtes Waͤldchen.
Goͤtter: ich ſehe ſichtbar ſeyn wollende Phantome! Mit einer ſolchen Hypotheſe iſt meine beſte mytholo- giſche und poetiſche, und Kunſtentzuͤckung getoͤdtet! Jch mag die ketzeriſche Neuigkeit nicht: ich bleibe bei der alten griechiſchen Rechtglaͤubigkeit.
14.
„Auch die Groͤße der homeriſchen Goͤtter kann „der Maler nicht nachahmen!„ und was Hr. L. daruͤber ſagt a), laͤuft auf die drei Urſachen hinaus: daß in der Malerei weniger das Wunderbare der poetiſchen Einbildung, ſondern mehr die Gewohnheit zu ſehen, die anſchauliche Wahrheit des Auges herrſche: zweitens, daß, da die Malerei innerhalb einem Raume arbeitet, auch mehr die Proportion und Disproportion in Betracht komme, als bei dem Dichter, deſſen Einbildungskraft in allen Welten des Moͤglichen und Wirklichen, nicht bloß alſo zwi- ſchen Himmel und Erde, und am wenigſten zwiſchen vier engen Seiten wirket. — Drittens, daß, wo die Groͤße durch Kraft, Staͤrke, Schnelligkeit vom Dichter ausgedruͤckt werden konnten, der Maler in dieſem Ausdrucke ihm ganz nachbleibe, da er, der fuͤr den Raum arbeitet, nicht eben Kraft, und der, der fuͤr ſeinen Anblick arbeitet, nicht eben Schnel- ligkeit der Bewegung zum Mittelpunkte ſeiner Wirk- ſamkeit machen kann. — Es koͤnnte dieſen Urſa-
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a)p. 131 — 136. Laok.
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Erſtes Waͤldchen.
Goͤtter: ich ſehe ſichtbar ſeyn wollende Phantome!
Mit einer ſolchen Hypotheſe iſt meine beſte mytholo-
giſche und poetiſche, und Kunſtentzuͤckung getoͤdtet!
Jch mag die ketzeriſche Neuigkeit nicht: ich bleibe
bei der alten griechiſchen Rechtglaͤubigkeit.
14.
„Auch die Groͤße der homeriſchen Goͤtter kann
„der Maler nicht nachahmen!„ und was Hr. L.
daruͤber ſagt a), laͤuft auf die drei Urſachen hinaus:
daß in der Malerei weniger das Wunderbare der
poetiſchen Einbildung, ſondern mehr die Gewohnheit
zu ſehen, die anſchauliche Wahrheit des Auges
herrſche: zweitens, daß, da die Malerei innerhalb
einem Raume arbeitet, auch mehr die Proportion
und Disproportion in Betracht komme, als bei dem
Dichter, deſſen Einbildungskraft in allen Welten
des Moͤglichen und Wirklichen, nicht bloß alſo zwi-
ſchen Himmel und Erde, und am wenigſten zwiſchen
vier engen Seiten wirket. — Drittens, daß, wo
die Groͤße durch Kraft, Staͤrke, Schnelligkeit vom
Dichter ausgedruͤckt werden konnten, der Maler in
dieſem Ausdrucke ihm ganz nachbleibe, da er, der
fuͤr den Raum arbeitet, nicht eben Kraft, und der,
der fuͤr ſeinen Anblick arbeitet, nicht eben Schnel-
ligkeit der Bewegung zum Mittelpunkte ſeiner Wirk-
ſamkeit machen kann. — Es koͤnnte dieſen Urſa-
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/175>, abgerufen am 22.02.2025.
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