Doch ich thue keinen Sprung. Jch gebe dem Menschen, nicht gleich plözlich neue Kräfte, "keine Sprachschaffende Fähigkeit," wie eine wilkührliche Qualitas occulta. Jch suche nur in den vorherbemerkten Lücken und Mängeln weiter.
Lücken und Mängel können doch nicht der Charakter seiner Gattung seyn: oder die Natur war gegen ihn die härteste Stiefmutter, da sie gegen jedes Jnsekt die liebreichste Mutter war. Jedem Jnsekt gab sie, was und wie viel es brauchte: Sinne zu Vorstellungen, und Vor- stellungen in Triebe gediegen; Organe zur Spra- che, so viel es bedorfte, und Organe, diese Spra- che zu verstehen. Bei dem Menschen ist alles in dem größten Mißverhältniß -- Sinne und Bedürf- nisse, Kräfte und Kreis der Würksamkeit, der auf ihn wartet, seine Organe und seine Sprache -- Es muß uns also "ein gewisses Mittelglied feh-
"len,
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Zweiter Abſchnitt.
Doch ich thue keinen Sprung. Jch gebe dem Menſchen, nicht gleich ploͤzlich neue Kraͤfte, „keine Sprachſchaffende Faͤhigkeit,„ wie eine wilkuͤhrliche Qualitas occulta. Jch ſuche nur in den vorherbemerkten Luͤcken und Maͤngeln weiter.
Luͤcken und Maͤngel koͤnnen doch nicht der Charakter ſeiner Gattung ſeyn: oder die Natur war gegen ihn die haͤrteſte Stiefmutter, da ſie gegen jedes Jnſekt die liebreichſte Mutter war. Jedem Jnſekt gab ſie, was und wie viel es brauchte: Sinne zu Vorſtellungen, und Vor- ſtellungen in Triebe gediegen; Organe zur Spra- che, ſo viel es bedorfte, und Organe, dieſe Spra- che zu verſtehen. Bei dem Menſchen iſt alles in dem groͤßten Mißverhaͤltniß — Sinne und Beduͤrf- niſſe, Kraͤfte und Kreis der Wuͤrkſamkeit, der auf ihn wartet, ſeine Organe und ſeine Sprache — Es muß uns alſo „ein gewiſſes Mittelglied feh-
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Zweiter Abſchnitt.
Doch ich thue keinen Sprung. Jch gebe dem
Menſchen, nicht gleich ploͤzlich neue Kraͤfte,
„keine Sprachſchaffende Faͤhigkeit,„ wie eine
wilkuͤhrliche Qualitas occulta. Jch ſuche nur in
den vorherbemerkten Luͤcken und Maͤngeln weiter.
Luͤcken und Maͤngel koͤnnen doch nicht
der Charakter ſeiner Gattung ſeyn: oder die
Natur war gegen ihn die haͤrteſte Stiefmutter,
da ſie gegen jedes Jnſekt die liebreichſte Mutter
war. Jedem Jnſekt gab ſie, was und wie viel
es brauchte: Sinne zu Vorſtellungen, und Vor-
ſtellungen in Triebe gediegen; Organe zur Spra-
che, ſo viel es bedorfte, und Organe, dieſe Spra-
che zu verſtehen. Bei dem Menſchen iſt alles in
dem groͤßten Mißverhaͤltniß — Sinne und Beduͤrf-
niſſe, Kraͤfte und Kreis der Wuͤrkſamkeit, der auf
ihn wartet, ſeine Organe und ſeine Sprache —
Es muß uns alſo „ein gewiſſes Mittelglied feh-
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/45>, abgerufen am 22.02.2025.
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