Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

kunft, ist für den Menschen schlechthin unterscheidend.
Denn jedes Thier wird schon durch seine Begierden we-
nigstens um etwas über den gegenwärtigen Moment hin-
ausgeführt; da die Befriedigung der Begierde nothwendi-
gerweise als etwas künftiges vorgestellt, wenn gleich kei-
nesweges durch einen abgesonderten Begriff des
Künftigen, gedacht werden muss. -- Noch weniger aber
können jene Begriffe vom Ich, vom Unendlichen, u. s. w.
die Menschheit allgemein charakterisiren. Das Kind in
seiner frühesten Periode hat sie nicht; der Wilde kommt
ihnen vielleicht nicht so nahe als manches Thier. Aber,
sagt man, die Anlage dazu ist doch vorhanden! Das
sagt man, nämlich in der Hoffnung, die Metaphysik
werde so geduldig seyn, sich die ursprünglichen Anlagen
gefallen zu lassen. Wenn sie nun nicht so geduldig ist,
so wird man es schon darauf müssen ankommen lassen,
ob vielleicht eine fortschreitende Psychologie dies alles
als Producte einer Veredelung erklären könne, zu welcher
der Mensch wegen der vorzüglichen Hülfsmittel gelangt,
die von der Gunst seines höchsten Bildners ihm sind zu-
getheilt worden.

Anmerkung.

Es ist eine herrschende Liebhaberey, die Vorzüge
des Menschen vor den Thieren nicht bloss zu bemerken
und anzuerkennen, sondern zu bewundern und zu über-
treiben. Wie man früher die Rasse der europäischen
Menschen anpries, und andre Rassen, als seyen sie zu
unedel, aus der Gemeinschaft des gleichen Ursprungs mit
jenen ausschloss, ohne dazu hinreichende Gründe zu ha-
ben *): so thut man jetzt so spröde gegen die Thiere,
als ob die Psychologie (nicht etwan wegen unserer sub-
jectiven Beschränktheit des Wissens, sondern an sich,

*) Wenigstens nach dem Urtheile des Herrn Hofr. Schulze,
in der Anthropologie §. 37. Meine Sache ist es nicht, Parthey zu
nehmen, wo ich keine hinreichenden Entscheidungsgründe sehe.

kunft, ist für den Menschen schlechthin unterscheidend.
Denn jedes Thier wird schon durch seine Begierden we-
nigstens um etwas über den gegenwärtigen Moment hin-
ausgeführt; da die Befriedigung der Begierde nothwendi-
gerweise als etwas künftiges vorgestellt, wenn gleich kei-
nesweges durch einen abgesonderten Begriff des
Künftigen, gedacht werden muſs. — Noch weniger aber
können jene Begriffe vom Ich, vom Unendlichen, u. s. w.
die Menschheit allgemein charakterisiren. Das Kind in
seiner frühesten Periode hat sie nicht; der Wilde kommt
ihnen vielleicht nicht so nahe als manches Thier. Aber,
sagt man, die Anlage dazu ist doch vorhanden! Das
sagt man, nämlich in der Hoffnung, die Metaphysik
werde so geduldig seyn, sich die ursprünglichen Anlagen
gefallen zu lassen. Wenn sie nun nicht so geduldig ist,
so wird man es schon darauf müssen ankommen lassen,
ob vielleicht eine fortschreitende Psychologie dies alles
als Producte einer Veredelung erklären könne, zu welcher
der Mensch wegen der vorzüglichen Hülfsmittel gelangt,
die von der Gunst seines höchsten Bildners ihm sind zu-
getheilt worden.

Anmerkung.

Es ist eine herrschende Liebhaberey, die Vorzüge
des Menschen vor den Thieren nicht bloſs zu bemerken
und anzuerkennen, sondern zu bewundern und zu über-
treiben. Wie man früher die Rasse der europäischen
Menschen anpries, und andre Rassen, als seyen sie zu
unedel, aus der Gemeinschaft des gleichen Ursprungs mit
jenen ausschloſs, ohne dazu hinreichende Gründe zu ha-
ben *): so thut man jetzt so spröde gegen die Thiere,
als ob die Psychologie (nicht etwan wegen unserer sub-
jectiven Beschränktheit des Wissens, sondern an sich,

*) Wenigstens nach dem Urtheile des Herrn Hofr. Schulze,
in der Anthropologie §. 37. Meine Sache ist es nicht, Parthey zu
nehmen, wo ich keine hinreichenden Entscheidungsgründe sehe.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0274" n="239"/>
kunft, ist für den Menschen schlechthin unterscheidend.<lb/>
Denn jedes Thier wird schon durch seine Begierden we-<lb/>
nigstens <hi rendition="#g">um etwas</hi> über den gegenwärtigen Moment hin-<lb/>
ausgeführt; da die Befriedigung der Begierde nothwendi-<lb/>
gerweise <hi rendition="#g">als</hi> etwas künftiges vorgestellt, wenn gleich kei-<lb/>
nesweges <hi rendition="#g">durch</hi> einen <hi rendition="#g">abgesonderten Begriff</hi> des<lb/>
Künftigen, gedacht werden mu&#x017F;s. &#x2014; Noch weniger aber<lb/>
können jene Begriffe vom Ich, vom Unendlichen, u. s. w.<lb/>
die Menschheit allgemein charakterisiren. Das Kind in<lb/>
seiner frühesten Periode hat sie nicht; der Wilde kommt<lb/>
ihnen vielleicht nicht so nahe als manches Thier. Aber,<lb/>
sagt man, die Anlage dazu ist doch vorhanden! Das<lb/><hi rendition="#g">sagt</hi> man, nämlich in der Hoffnung, die Metaphysik<lb/>
werde so geduldig seyn, sich die ursprünglichen Anlagen<lb/>
gefallen zu lassen. Wenn sie nun nicht so geduldig ist,<lb/>
so wird man es schon darauf müssen ankommen lassen,<lb/>
ob vielleicht eine fortschreitende Psychologie dies alles<lb/>
als Producte einer Veredelung erklären könne, zu welcher<lb/>
der Mensch wegen der vorzüglichen Hülfsmittel gelangt,<lb/>
die von der Gunst seines höchsten Bildners ihm sind zu-<lb/>
getheilt worden.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head><hi rendition="#g">Anmerkung</hi>.</head><lb/>
              <p>Es ist eine herrschende Liebhaberey, die Vorzüge<lb/>
des Menschen vor den Thieren nicht blo&#x017F;s zu bemerken<lb/>
und anzuerkennen, sondern zu bewundern und zu über-<lb/>
treiben. Wie man früher die Rasse der europäischen<lb/>
Menschen anpries, und andre Rassen, als seyen sie zu<lb/>
unedel, aus der Gemeinschaft des gleichen Ursprungs mit<lb/>
jenen ausschlo&#x017F;s, ohne dazu hinreichende Gründe zu ha-<lb/>
ben <note place="foot" n="*)">Wenigstens nach dem Urtheile des Herrn Hofr. <hi rendition="#g">Schulze,</hi><lb/>
in der Anthropologie §. 37. Meine Sache ist es nicht, Parthey zu<lb/>
nehmen, wo ich keine hinreichenden Entscheidungsgründe sehe.</note>: so thut man jetzt so spröde gegen die Thiere,<lb/>
als ob die Psychologie (nicht etwan wegen unserer sub-<lb/>
jectiven Beschränktheit des Wissens, sondern an sich,<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[239/0274] kunft, ist für den Menschen schlechthin unterscheidend. Denn jedes Thier wird schon durch seine Begierden we- nigstens um etwas über den gegenwärtigen Moment hin- ausgeführt; da die Befriedigung der Begierde nothwendi- gerweise als etwas künftiges vorgestellt, wenn gleich kei- nesweges durch einen abgesonderten Begriff des Künftigen, gedacht werden muſs. — Noch weniger aber können jene Begriffe vom Ich, vom Unendlichen, u. s. w. die Menschheit allgemein charakterisiren. Das Kind in seiner frühesten Periode hat sie nicht; der Wilde kommt ihnen vielleicht nicht so nahe als manches Thier. Aber, sagt man, die Anlage dazu ist doch vorhanden! Das sagt man, nämlich in der Hoffnung, die Metaphysik werde so geduldig seyn, sich die ursprünglichen Anlagen gefallen zu lassen. Wenn sie nun nicht so geduldig ist, so wird man es schon darauf müssen ankommen lassen, ob vielleicht eine fortschreitende Psychologie dies alles als Producte einer Veredelung erklären könne, zu welcher der Mensch wegen der vorzüglichen Hülfsmittel gelangt, die von der Gunst seines höchsten Bildners ihm sind zu- getheilt worden. Anmerkung. Es ist eine herrschende Liebhaberey, die Vorzüge des Menschen vor den Thieren nicht bloſs zu bemerken und anzuerkennen, sondern zu bewundern und zu über- treiben. Wie man früher die Rasse der europäischen Menschen anpries, und andre Rassen, als seyen sie zu unedel, aus der Gemeinschaft des gleichen Ursprungs mit jenen ausschloſs, ohne dazu hinreichende Gründe zu ha- ben *): so thut man jetzt so spröde gegen die Thiere, als ob die Psychologie (nicht etwan wegen unserer sub- jectiven Beschränktheit des Wissens, sondern an sich, *) Wenigstens nach dem Urtheile des Herrn Hofr. Schulze, in der Anthropologie §. 37. Meine Sache ist es nicht, Parthey zu nehmen, wo ich keine hinreichenden Entscheidungsgründe sehe.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/274
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/274>, abgerufen am 21.12.2024.