Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

des Ich ansehen möchte. Wir sagen nicht bloss mein
Leib
, sondern auch mein Geist, meine Vernunft,
mein Wille
, ja sogar: mein Selbstgefühl, mein
Selbstbewusstseyn, mein Leben
, und mein Tod.
Denn alle diese Bestimmungen fallen in den Punct, wel-
cher Ich heisst.

Der Leser kann nun vermuthen, dass diese Ansicht
vom Ich wohl die richtige seyn möge, aber er weiss von
dem Allen noch nichts; versteht auch noch nicht, wie
die Vorstellung eines Puncts in einer Reihe möglich ist;
begreift also von der gegebenen Erläuterung noch sehr
wenig. Um weiter zu kommen, ist es nöthig, diese ganze
Anmerkung bey Seite zu setzen, und den Faden des
frühern Vortrags wieder aufzunehmen. Derselbe blieb
liegen in der tiefsten Finsterniss; wir müssen daher sehr
langsam fortschreiten.


§. 28.

Irgend etwas, wenn auch noch so dunkel vorgestellt,
hat ohne Zweifel Jeder im Auge, der von Sich redet;
denn ein Vorstellen ganz ohne Gegenstand kann doch
die Aussage des Ich nicht seyn. Wir müssen also zu-
erst dem Begriff des Ich ein unbekanntes, und noch zu
bestimmendes Object leihen; und nachsehn, was weiter
daraus werde.

Sogleich nun wird das Geständniss unvermeidlich,
dass wir von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs ab-
gewichen sind. Denn nicht ein unbekanntes Object soll-
ten wir annehmen, sondern uns damit begnügen, dass
das Subject zugleich die Stelle des Objects vertrete; dass
das Ich nicht etwas Anderes, sondern Sich setze.

Dieses Geständniss darf jedoch nicht im geringsten
befremden. Denn es versteht sich von selbst, dass ein
widersprechender Begriff, wenn er nicht ganz verworfen
werden kann, wenigstens eine Veränderung erleiden muss.
Und die gemachte Veränderung war nothwendig; denn

des Ich ansehen möchte. Wir sagen nicht bloſs mein
Leib
, sondern auch mein Geist, meine Vernunft,
mein Wille
, ja sogar: mein Selbstgefühl, mein
Selbstbewuſstseyn, mein Leben
, und mein Tod.
Denn alle diese Bestimmungen fallen in den Punct, wel-
cher Ich heiſst.

Der Leser kann nun vermuthen, daſs diese Ansicht
vom Ich wohl die richtige seyn möge, aber er weiſs von
dem Allen noch nichts; versteht auch noch nicht, wie
die Vorstellung eines Puncts in einer Reihe möglich ist;
begreift also von der gegebenen Erläuterung noch sehr
wenig. Um weiter zu kommen, ist es nöthig, diese ganze
Anmerkung bey Seite zu setzen, und den Faden des
frühern Vortrags wieder aufzunehmen. Derselbe blieb
liegen in der tiefsten Finsterniſs; wir müssen daher sehr
langsam fortschreiten.


§. 28.

Irgend etwas, wenn auch noch so dunkel vorgestellt,
hat ohne Zweifel Jeder im Auge, der von Sich redet;
denn ein Vorstellen ganz ohne Gegenstand kann doch
die Aussage des Ich nicht seyn. Wir müssen also zu-
erst dem Begriff des Ich ein unbekanntes, und noch zu
bestimmendes Object leihen; und nachsehn, was weiter
daraus werde.

Sogleich nun wird das Geständniſs unvermeidlich,
daſs wir von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs ab-
gewichen sind. Denn nicht ein unbekanntes Object soll-
ten wir annehmen, sondern uns damit begnügen, daſs
das Subject zugleich die Stelle des Objects vertrete; daſs
das Ich nicht etwas Anderes, sondern Sich setze.

Dieses Geständniſs darf jedoch nicht im geringsten
befremden. Denn es versteht sich von selbst, daſs ein
widersprechender Begriff, wenn er nicht ganz verworfen
werden kann, wenigstens eine Veränderung erleiden muſs.
Und die gemachte Veränderung war nothwendig; denn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0122" n="102"/>
des Ich ansehen möchte. Wir sagen nicht blo&#x017F;s <hi rendition="#g">mein<lb/>
Leib</hi>, sondern auch <hi rendition="#g">mein Geist, meine Vernunft,<lb/>
mein Wille</hi>, ja sogar: <hi rendition="#g">mein Selbstgefühl, mein<lb/>
Selbstbewu&#x017F;stseyn, mein Leben</hi>, und <hi rendition="#g">mein Tod</hi>.<lb/>
Denn alle diese Bestimmungen fallen in den <hi rendition="#g">Punct</hi>, wel-<lb/>
cher <hi rendition="#g">Ich</hi> hei&#x017F;st.</p><lb/>
              <p>Der Leser kann nun vermuthen, da&#x017F;s diese Ansicht<lb/>
vom Ich wohl die richtige seyn möge, aber er <hi rendition="#g">wei&#x017F;s</hi> von<lb/>
dem Allen noch nichts; versteht auch noch nicht, wie<lb/>
die Vorstellung eines Puncts in einer Reihe möglich ist;<lb/>
begreift also von der gegebenen Erläuterung noch sehr<lb/>
wenig. Um weiter zu kommen, ist es nöthig, diese ganze<lb/>
Anmerkung bey Seite zu setzen, und den Faden des<lb/>
frühern Vortrags wieder aufzunehmen. Derselbe blieb<lb/>
liegen in der tiefsten Finsterni&#x017F;s; wir müssen daher sehr<lb/>
langsam fortschreiten.</p>
            </div><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <div n="4">
              <head>§. 28.</head><lb/>
              <p>Irgend etwas, wenn auch noch so dunkel vorgestellt,<lb/>
hat ohne Zweifel Jeder im Auge, der von Sich redet;<lb/>
denn ein Vorstellen ganz ohne Gegenstand kann doch<lb/>
die Aussage des Ich nicht seyn. Wir müssen also zu-<lb/>
erst dem Begriff des Ich ein unbekanntes, und noch zu<lb/>
bestimmendes Object leihen; und nachsehn, was weiter<lb/>
daraus werde.</p><lb/>
              <p>Sogleich nun wird das Geständni&#x017F;s unvermeidlich,<lb/>
da&#x017F;s wir von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs ab-<lb/>
gewichen sind. Denn nicht ein unbekanntes Object soll-<lb/>
ten wir annehmen, sondern uns damit begnügen, da&#x017F;s<lb/>
das Subject zugleich die Stelle des Objects vertrete; da&#x017F;s<lb/>
das Ich nicht etwas Anderes, sondern Sich setze.</p><lb/>
              <p>Dieses Geständni&#x017F;s darf jedoch nicht im geringsten<lb/>
befremden. Denn es versteht sich von selbst, da&#x017F;s ein<lb/>
widersprechender Begriff, wenn er nicht ganz verworfen<lb/>
werden kann, wenigstens eine Veränderung erleiden mu&#x017F;s.<lb/>
Und die gemachte Veränderung war nothwendig; denn<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0122] des Ich ansehen möchte. Wir sagen nicht bloſs mein Leib, sondern auch mein Geist, meine Vernunft, mein Wille, ja sogar: mein Selbstgefühl, mein Selbstbewuſstseyn, mein Leben, und mein Tod. Denn alle diese Bestimmungen fallen in den Punct, wel- cher Ich heiſst. Der Leser kann nun vermuthen, daſs diese Ansicht vom Ich wohl die richtige seyn möge, aber er weiſs von dem Allen noch nichts; versteht auch noch nicht, wie die Vorstellung eines Puncts in einer Reihe möglich ist; begreift also von der gegebenen Erläuterung noch sehr wenig. Um weiter zu kommen, ist es nöthig, diese ganze Anmerkung bey Seite zu setzen, und den Faden des frühern Vortrags wieder aufzunehmen. Derselbe blieb liegen in der tiefsten Finsterniſs; wir müssen daher sehr langsam fortschreiten. §. 28. Irgend etwas, wenn auch noch so dunkel vorgestellt, hat ohne Zweifel Jeder im Auge, der von Sich redet; denn ein Vorstellen ganz ohne Gegenstand kann doch die Aussage des Ich nicht seyn. Wir müssen also zu- erst dem Begriff des Ich ein unbekanntes, und noch zu bestimmendes Object leihen; und nachsehn, was weiter daraus werde. Sogleich nun wird das Geständniſs unvermeidlich, daſs wir von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs ab- gewichen sind. Denn nicht ein unbekanntes Object soll- ten wir annehmen, sondern uns damit begnügen, daſs das Subject zugleich die Stelle des Objects vertrete; daſs das Ich nicht etwas Anderes, sondern Sich setze. Dieses Geständniſs darf jedoch nicht im geringsten befremden. Denn es versteht sich von selbst, daſs ein widersprechender Begriff, wenn er nicht ganz verworfen werden kann, wenigstens eine Veränderung erleiden muſs. Und die gemachte Veränderung war nothwendig; denn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/122
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/122>, abgerufen am 21.11.2024.