Jch glaube, daß es mir bei der Nachwelt zu keiner Schande gereichen werde, wenn ich der Meinung des Boerhaavens und Werlhofs beitrete, besonders da ich mich, bei meiner allen Hipotesen so zuwider lebenden Gemütsart, nicht überreden kann, daß meine Gedanken die rechten sind, und daß das Warheit sei, was mich meine Sinnen in einem so langwierigen Geschäfte ge- lehrt haben (e).
Jch gebe gerne zu, daß die ber. Männer darinnen recht haben, wenn sie zur Entschuldigung ihrer Sache be- haupten, daß mit den willkürlichen Handlungen nicht allemal ein Bewustsein verknüpft sei (f). Es hat die Seele, als ein endliches Wesen gemeiniglich ein besonde- res Object vor Augen, mit welchem sie sich beschäftigt. Jndem sie sich nun demselbigen ganz und gar überläst, so vergist sie indessen diejenigen Dinge, die sie wirklich empfin- det, und deren sie sich wirklich bewust ist, sehr leichtlich, und sie glaubt selbige nicht empfunden zu haben, um so mehr, je schwächer deren Eindrukk auf unsre Sinnen ist. Wenn ich mich selbst betrachte, so erinnere ich mich oft, bei keiner einzigen Lage des Körpers, ohne allen Schmerz gewesen zu sein, und dieses ist auch die Ursache, warum wir auch in dem weichsten Bette einmal nach dem andern die Lage des Körpers verändern. Doch ich besinne mich nicht, eben diese Schmerzen, welche ich, wenn ich auf auf mich Acht gab, nur gar zu sehr empfand, empfunden
zu
(e)[Spaltenumbruch]GALEN. mot. musc. L. II. c. 6.
(f) Den Schlus vom Mangel des Bewustseins gebrauchte Gui- lielmus BATTIE princ. anim. pag. 119. etc. und noch vor ihm der sehr berümte Josephus PIT- [Spaltenumbruch]
TON (gemeiniglich von TOUR- NEFORT genannt) in der Jn- augural - Thesis, anno 1695 her- ausgegeben: non est anima cor- poris facultatum principium, und in der andern: Ergo ex sanguinis circuitu morbi.
Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
§. 6. Man beantwortet die Gruͤnde der Gegner.
Jch glaube, daß es mir bei der Nachwelt zu keiner Schande gereichen werde, wenn ich der Meinung des Boerhaavens und Werlhofs beitrete, beſonders da ich mich, bei meiner allen Hipoteſen ſo zuwider lebenden Gemuͤtsart, nicht uͤberreden kann, daß meine Gedanken die rechten ſind, und daß das Warheit ſei, was mich meine Sinnen in einem ſo langwierigen Geſchaͤfte ge- lehrt haben (e).
Jch gebe gerne zu, daß die ber. Maͤnner darinnen recht haben, wenn ſie zur Entſchuldigung ihrer Sache be- haupten, daß mit den willkuͤrlichen Handlungen nicht allemal ein Bewuſtſein verknuͤpft ſei (f). Es hat die Seele, als ein endliches Weſen gemeiniglich ein beſonde- res Object vor Augen, mit welchem ſie ſich beſchaͤftigt. Jndem ſie ſich nun demſelbigen ganz und gar uͤberlaͤſt, ſo vergiſt ſie indeſſen diejenigen Dinge, die ſie wirklich empfin- det, und deren ſie ſich wirklich bewuſt iſt, ſehr leichtlich, und ſie glaubt ſelbige nicht empfunden zu haben, um ſo mehr, je ſchwaͤcher deren Eindrukk auf unſre Sinnen iſt. Wenn ich mich ſelbſt betrachte, ſo erinnere ich mich oft, bei keiner einzigen Lage des Koͤrpers, ohne allen Schmerz geweſen zu ſein, und dieſes iſt auch die Urſache, warum wir auch in dem weichſten Bette einmal nach dem andern die Lage des Koͤrpers veraͤndern. Doch ich beſinne mich nicht, eben dieſe Schmerzen, welche ich, wenn ich auf auf mich Acht gab, nur gar zu ſehr empfand, empfunden
zu
(e)[Spaltenumbruch]GALEN. mot. muſc. L. II. c. 6.
(f) Den Schlus vom Mangel des Bewuſtſeins gebrauchte Gui- lielmus BATTIE princ. anim. pag. 119. etc. und noch vor ihm der ſehr beruͤmte Joſephus PIT- [Spaltenumbruch]
TON (gemeiniglich von TOUR- NEFORT genannt) in der Jn- augural - Theſis, anno 1695 her- ausgegeben: non eſt anima cor- poris facultatum principium, und in der andern: Ergo ex ſanguinis circuitu morbi.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0154"n="136"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Thieriſche Bewegung. <hirendition="#aq">XI.</hi> Buch.</hi></fw><lb/><divn="2"><head><hirendition="#b">§. 6.<lb/>
Man beantwortet die Gruͤnde der Gegner.</hi></head><lb/><p>Jch glaube, daß es mir bei der Nachwelt zu keiner<lb/>
Schande gereichen werde, wenn ich der Meinung des<lb/><hirendition="#fr">Boerhaavens</hi> und <hirendition="#fr">Werlhofs</hi> beitrete, beſonders da<lb/>
ich mich, bei meiner allen Hipoteſen ſo zuwider lebenden<lb/>
Gemuͤtsart, nicht uͤberreden kann, daß meine Gedanken<lb/>
die rechten ſind, und daß das Warheit ſei, was mich<lb/>
meine Sinnen in einem ſo langwierigen Geſchaͤfte ge-<lb/>
lehrt haben <noteplace="foot"n="(e)"><cb/><hirendition="#aq"><hirendition="#g">GALEN.</hi> mot. muſc. L. II.<lb/>
c.</hi> 6.</note>.</p><lb/><p>Jch gebe gerne zu, daß die ber. Maͤnner darinnen<lb/>
recht haben, wenn ſie zur Entſchuldigung ihrer Sache be-<lb/>
haupten, daß mit den willkuͤrlichen Handlungen nicht<lb/>
allemal ein Bewuſtſein verknuͤpft ſei <noteplace="foot"n="(f)">Den Schlus vom Mangel<lb/>
des Bewuſtſeins gebrauchte <hirendition="#aq">Gui-<lb/>
lielmus <hirendition="#g">BATTIE</hi> princ. anim.<lb/>
pag. 119. etc.</hi> und noch vor ihm<lb/>
der ſehr beruͤmte <hirendition="#aq">Joſephus <hirendition="#g">PIT-<lb/><cb/>
TON</hi></hi> (gemeiniglich von <hirendition="#aq">TOUR-<lb/>
NEFORT</hi> genannt) in der Jn-<lb/>
augural - <hirendition="#aq">Theſis, anno</hi> 1695 her-<lb/>
ausgegeben: <hirendition="#aq">non eſt anima cor-<lb/>
poris facultatum principium,</hi> und<lb/>
in der andern: <hirendition="#aq">Ergo ex ſanguinis<lb/>
circuitu morbi.</hi></note>. Es hat die<lb/>
Seele, als ein endliches Weſen gemeiniglich ein beſonde-<lb/>
res Object vor Augen, mit welchem ſie ſich beſchaͤftigt.<lb/>
Jndem ſie ſich nun demſelbigen ganz und gar uͤberlaͤſt, ſo<lb/>
vergiſt ſie indeſſen diejenigen Dinge, die ſie wirklich empfin-<lb/>
det, und deren ſie ſich wirklich bewuſt iſt, ſehr leichtlich,<lb/>
und ſie glaubt ſelbige nicht empfunden zu haben, um ſo<lb/>
mehr, je ſchwaͤcher deren Eindrukk auf unſre Sinnen iſt.<lb/>
Wenn ich mich ſelbſt betrachte, ſo erinnere ich mich oft,<lb/>
bei keiner einzigen Lage des Koͤrpers, ohne allen Schmerz<lb/>
geweſen zu ſein, und dieſes iſt auch die Urſache, warum<lb/>
wir auch in dem weichſten Bette einmal nach dem andern<lb/>
die Lage des Koͤrpers veraͤndern. Doch ich beſinne mich<lb/>
nicht, eben dieſe Schmerzen, welche ich, wenn ich auf<lb/>
auf mich Acht gab, nur gar zu ſehr empfand, empfunden<lb/><fwplace="bottom"type="catch">zu</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[136/0154]
Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
§. 6.
Man beantwortet die Gruͤnde der Gegner.
Jch glaube, daß es mir bei der Nachwelt zu keiner
Schande gereichen werde, wenn ich der Meinung des
Boerhaavens und Werlhofs beitrete, beſonders da
ich mich, bei meiner allen Hipoteſen ſo zuwider lebenden
Gemuͤtsart, nicht uͤberreden kann, daß meine Gedanken
die rechten ſind, und daß das Warheit ſei, was mich
meine Sinnen in einem ſo langwierigen Geſchaͤfte ge-
lehrt haben (e).
Jch gebe gerne zu, daß die ber. Maͤnner darinnen
recht haben, wenn ſie zur Entſchuldigung ihrer Sache be-
haupten, daß mit den willkuͤrlichen Handlungen nicht
allemal ein Bewuſtſein verknuͤpft ſei (f). Es hat die
Seele, als ein endliches Weſen gemeiniglich ein beſonde-
res Object vor Augen, mit welchem ſie ſich beſchaͤftigt.
Jndem ſie ſich nun demſelbigen ganz und gar uͤberlaͤſt, ſo
vergiſt ſie indeſſen diejenigen Dinge, die ſie wirklich empfin-
det, und deren ſie ſich wirklich bewuſt iſt, ſehr leichtlich,
und ſie glaubt ſelbige nicht empfunden zu haben, um ſo
mehr, je ſchwaͤcher deren Eindrukk auf unſre Sinnen iſt.
Wenn ich mich ſelbſt betrachte, ſo erinnere ich mich oft,
bei keiner einzigen Lage des Koͤrpers, ohne allen Schmerz
geweſen zu ſein, und dieſes iſt auch die Urſache, warum
wir auch in dem weichſten Bette einmal nach dem andern
die Lage des Koͤrpers veraͤndern. Doch ich beſinne mich
nicht, eben dieſe Schmerzen, welche ich, wenn ich auf
auf mich Acht gab, nur gar zu ſehr empfand, empfunden
zu
(e)
GALEN. mot. muſc. L. II.
c. 6.
(f) Den Schlus vom Mangel
des Bewuſtſeins gebrauchte Gui-
lielmus BATTIE princ. anim.
pag. 119. etc. und noch vor ihm
der ſehr beruͤmte Joſephus PIT-
TON (gemeiniglich von TOUR-
NEFORT genannt) in der Jn-
augural - Theſis, anno 1695 her-
ausgegeben: non eſt anima cor-
poris facultatum principium, und
in der andern: Ergo ex ſanguinis
circuitu morbi.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/154>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.