Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Abschnitt. Der Verstand.
nur die Zeichen vorstellen, die wir doch selbst durch das
Gesicht gelernt haben. Jndessen behalten wir am deut-
lichsten, und dauerhaftesten diejenigen Empfindungen,
welche in uns durch das Gesicht entstehen (i). Wir träu-
men (k) zwar auch von Tönen, doch aber am meisten
von Objecten, die uns durch das Gesicht öfters vorgestellt
werden. Die Einbildungskraft beschäftigt sich fast einzig
und allein mit sichtbaren Dingen. Wer diese Fähigkeit
besizzet, kann sich einen abwesenden Freund, Haus und
Bäume dergestalt vormahlen, daß er sie in seiner Seele
als gegenwärtig sieht, er kann die Sache nach dieser Jdee
mit dem Pinsel abschildern (k*), nicht ohne ausdrükkliche
Aehnlichkeit, und mit Worten dergestalt beschreiben, daß
man sie erkennen kann. Ohne diese Fähigkeit können kei-
ne Dichter sein. Cardan konnte wachend alles sehen,
was er wollte, wobei doch die Bilder davon vor den Au-
gen auf und niederstiegen (l). Ein dergleichen Beispiel
giebt der vortrefliche Bonnet (m). Es scheint aber das
Gesichte an den deutlichsten und kleinsten Bildern einen
Vorzug zu haben (n), indem dasjenige ein sehr kleines
Theilchen vom Nerven ist, das von den gesehenen Bil-
dern getroffen wird, und es liegen die Theilchen dieses
Bildes in einer gewissen Ordnung, dergleichen in andern
Sinnen nicht vorkommt. Man hält die Empfindungen
des Gehörs für verwirrter, weil sich viele Töne in einen
einzigen vereinigen (o).

§. 6.
Das Gedächtnis.

Folglich erhalten sich im Menschen, Begriffe, welche
er mit Aufmerksamkeit angesehen: und welche ihn heftig

rühren
(i) [Spaltenumbruch] Conf. HARTLEY pag. 210.
57. 58. WOLF psychol. Empir.
p.
60. die dahin gehörigen Fasern
sind beweglicher, vom öftern Ge-
brauche, BONNET p. 425.
(k) BONNET ibid.
(k*) MORELLUS unser Lands-
[Spaltenumbruch] mann zeichnete alle Käiserköpfe der-
gestalt ab, daß man sie erkennen
konnte.
(l) Subtil. p. 314.
(m) pag. 427.
(n) pag. 477. 478.
(o) BERKLEY p. 339.

I. Abſchnitt. Der Verſtand.
nur die Zeichen vorſtellen, die wir doch ſelbſt durch das
Geſicht gelernt haben. Jndeſſen behalten wir am deut-
lichſten, und dauerhafteſten diejenigen Empfindungen,
welche in uns durch das Geſicht entſtehen (i). Wir traͤu-
men (k) zwar auch von Toͤnen, doch aber am meiſten
von Objecten, die uns durch das Geſicht oͤfters vorgeſtellt
werden. Die Einbildungskraft beſchaͤftigt ſich faſt einzig
und allein mit ſichtbaren Dingen. Wer dieſe Faͤhigkeit
beſizzet, kann ſich einen abweſenden Freund, Haus und
Baͤume dergeſtalt vormahlen, daß er ſie in ſeiner Seele
als gegenwaͤrtig ſieht, er kann die Sache nach dieſer Jdee
mit dem Pinſel abſchildern (k*), nicht ohne ausdruͤkkliche
Aehnlichkeit, und mit Worten dergeſtalt beſchreiben, daß
man ſie erkennen kann. Ohne dieſe Faͤhigkeit koͤnnen kei-
ne Dichter ſein. Cardan konnte wachend alles ſehen,
was er wollte, wobei doch die Bilder davon vor den Au-
gen auf und niederſtiegen (l). Ein dergleichen Beiſpiel
giebt der vortrefliche Bonnet (m). Es ſcheint aber das
Geſichte an den deutlichſten und kleinſten Bildern einen
Vorzug zu haben (n), indem dasjenige ein ſehr kleines
Theilchen vom Nerven iſt, das von den geſehenen Bil-
dern getroffen wird, und es liegen die Theilchen dieſes
Bildes in einer gewiſſen Ordnung, dergleichen in andern
Sinnen nicht vorkommt. Man haͤlt die Empfindungen
des Gehoͤrs fuͤr verwirrter, weil ſich viele Toͤne in einen
einzigen vereinigen (o).

§. 6.
Das Gedaͤchtnis.

Folglich erhalten ſich im Menſchen, Begriffe, welche
er mit Aufmerkſamkeit angeſehen: und welche ihn heftig

ruͤhren
(i) [Spaltenumbruch] Conf. HARTLEY pag. 210.
57. 58. WOLF pſychol. Empir.
p.
60. die dahin gehoͤrigen Faſern
ſind beweglicher, vom oͤftern Ge-
brauche, BONNET p. 425.
(k) BONNET ibid.
(k*) MORELLUS unſer Lands-
[Spaltenumbruch] mann zeichnete alle Kaͤiſerkoͤpfe der-
geſtalt ab, daß man ſie erkennen
konnte.
(l) Subtil. p. 314.
(m) pag. 427.
(n) pag. 477. 478.
(o) BERKLEY p. 339.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f1073" n="1055"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ab&#x017F;chnitt. Der Ver&#x017F;tand.</hi></fw><lb/>
nur die Zeichen vor&#x017F;tellen, die wir doch &#x017F;elb&#x017F;t durch das<lb/>
Ge&#x017F;icht gelernt haben. Jnde&#x017F;&#x017F;en behalten wir am deut-<lb/>
lich&#x017F;ten, und dauerhafte&#x017F;ten diejenigen Empfindungen,<lb/>
welche in uns durch das Ge&#x017F;icht ent&#x017F;tehen <note place="foot" n="(i)"><cb/><hi rendition="#aq">Conf. HARTLEY pag. 210.<lb/>
57. 58. WOLF p&#x017F;ychol. Empir.<lb/>
p.</hi> 60. die dahin geho&#x0364;rigen Fa&#x017F;ern<lb/>
&#x017F;ind beweglicher, vom o&#x0364;ftern Ge-<lb/>
brauche, <hi rendition="#aq">BONNET p.</hi> 425.</note>. Wir tra&#x0364;u-<lb/>
men <note place="foot" n="(k)"><hi rendition="#aq">BONNET ibid.</hi></note> zwar auch von To&#x0364;nen, doch aber am mei&#x017F;ten<lb/>
von Objecten, die uns durch das Ge&#x017F;icht o&#x0364;fters vorge&#x017F;tellt<lb/>
werden. Die Einbildungskraft be&#x017F;cha&#x0364;ftigt &#x017F;ich fa&#x017F;t einzig<lb/>
und allein mit &#x017F;ichtbaren Dingen. Wer die&#x017F;e Fa&#x0364;higkeit<lb/>
be&#x017F;izzet, kann &#x017F;ich einen abwe&#x017F;enden Freund, Haus und<lb/>
Ba&#x0364;ume derge&#x017F;talt vormahlen, daß er &#x017F;ie in &#x017F;einer Seele<lb/>
als gegenwa&#x0364;rtig &#x017F;ieht, er kann die Sache nach die&#x017F;er Jdee<lb/>
mit dem Pin&#x017F;el ab&#x017F;childern <note place="foot" n="(k*)"><hi rendition="#aq">MORELLUS</hi> un&#x017F;er Lands-<lb/><cb/>
mann zeichnete alle Ka&#x0364;i&#x017F;erko&#x0364;pfe der-<lb/>
ge&#x017F;talt ab, daß man &#x017F;ie erkennen<lb/>
konnte.</note>, nicht ohne ausdru&#x0364;kkliche<lb/>
Aehnlichkeit, und mit Worten derge&#x017F;talt be&#x017F;chreiben, daß<lb/>
man &#x017F;ie erkennen kann. Ohne die&#x017F;e Fa&#x0364;higkeit ko&#x0364;nnen kei-<lb/>
ne Dichter &#x017F;ein. <hi rendition="#fr">Cardan</hi> konnte wachend alles &#x017F;ehen,<lb/>
was er wollte, wobei doch die Bilder davon vor den Au-<lb/>
gen auf und nieder&#x017F;tiegen <note place="foot" n="(l)"><hi rendition="#aq">Subtil. p.</hi> 314.</note>. Ein dergleichen Bei&#x017F;piel<lb/>
giebt der vortrefliche <hi rendition="#fr">Bonnet</hi> <note place="foot" n="(m)"><hi rendition="#aq">pag.</hi> 427.</note>. Es &#x017F;cheint aber das<lb/>
Ge&#x017F;ichte an den deutlich&#x017F;ten und klein&#x017F;ten Bildern einen<lb/>
Vorzug zu haben <note place="foot" n="(n)"><hi rendition="#aq">pag.</hi> 477. 478.</note>, indem dasjenige ein &#x017F;ehr kleines<lb/>
Theilchen vom Nerven i&#x017F;t, das von den ge&#x017F;ehenen Bil-<lb/>
dern getroffen wird, und es liegen die Theilchen die&#x017F;es<lb/>
Bildes in einer gewi&#x017F;&#x017F;en Ordnung, dergleichen in andern<lb/>
Sinnen nicht vorkommt. Man ha&#x0364;lt die Empfindungen<lb/>
des Geho&#x0364;rs fu&#x0364;r verwirrter, weil &#x017F;ich viele To&#x0364;ne in einen<lb/>
einzigen vereinigen <note place="foot" n="(o)"><hi rendition="#aq">BERKLEY p.</hi> 339.</note>.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 6.<lb/>
Das Geda&#x0364;chtnis.</head><lb/>
            <p>Folglich erhalten &#x017F;ich im Men&#x017F;chen, Begriffe, welche<lb/>
er mit Aufmerk&#x017F;amkeit ange&#x017F;ehen: und welche ihn heftig<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ru&#x0364;hren</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1055/1073] I. Abſchnitt. Der Verſtand. nur die Zeichen vorſtellen, die wir doch ſelbſt durch das Geſicht gelernt haben. Jndeſſen behalten wir am deut- lichſten, und dauerhafteſten diejenigen Empfindungen, welche in uns durch das Geſicht entſtehen (i). Wir traͤu- men (k) zwar auch von Toͤnen, doch aber am meiſten von Objecten, die uns durch das Geſicht oͤfters vorgeſtellt werden. Die Einbildungskraft beſchaͤftigt ſich faſt einzig und allein mit ſichtbaren Dingen. Wer dieſe Faͤhigkeit beſizzet, kann ſich einen abweſenden Freund, Haus und Baͤume dergeſtalt vormahlen, daß er ſie in ſeiner Seele als gegenwaͤrtig ſieht, er kann die Sache nach dieſer Jdee mit dem Pinſel abſchildern (k*), nicht ohne ausdruͤkkliche Aehnlichkeit, und mit Worten dergeſtalt beſchreiben, daß man ſie erkennen kann. Ohne dieſe Faͤhigkeit koͤnnen kei- ne Dichter ſein. Cardan konnte wachend alles ſehen, was er wollte, wobei doch die Bilder davon vor den Au- gen auf und niederſtiegen (l). Ein dergleichen Beiſpiel giebt der vortrefliche Bonnet (m). Es ſcheint aber das Geſichte an den deutlichſten und kleinſten Bildern einen Vorzug zu haben (n), indem dasjenige ein ſehr kleines Theilchen vom Nerven iſt, das von den geſehenen Bil- dern getroffen wird, und es liegen die Theilchen dieſes Bildes in einer gewiſſen Ordnung, dergleichen in andern Sinnen nicht vorkommt. Man haͤlt die Empfindungen des Gehoͤrs fuͤr verwirrter, weil ſich viele Toͤne in einen einzigen vereinigen (o). §. 6. Das Gedaͤchtnis. Folglich erhalten ſich im Menſchen, Begriffe, welche er mit Aufmerkſamkeit angeſehen: und welche ihn heftig ruͤhren (i) Conf. HARTLEY pag. 210. 57. 58. WOLF pſychol. Empir. p. 60. die dahin gehoͤrigen Faſern ſind beweglicher, vom oͤftern Ge- brauche, BONNET p. 425. (k) BONNET ibid. (k*) MORELLUS unſer Lands- mann zeichnete alle Kaͤiſerkoͤpfe der- geſtalt ab, daß man ſie erkennen konnte. (l) Subtil. p. 314. (m) pag. 427. (n) pag. 477. 478. (o) BERKLEY p. 339.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1073
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1055. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1073>, abgerufen am 20.11.2024.