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Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744.

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Andre Abhandlung.
Von den Liedern, die gewissen Handthierungen eigen waren,
oder bey gewissen Gelegenheiten gebraucht wurden.

Es scheinet, daß in Griechenland jede Handthierung eine Art vom
Liede hatte, die ihr besonders geheiligt war. Wenigstens haben
wir noch einige Spuren von Liedern, welche die Hirten sungen; von
denen, welche die Leute, die des Tags auf dem Felde arbeiteten, zu brau-
chen pflegten; von den Liedern der Schnitter, derer, welche das Korn
droschen, und derer, welche Wasser schöpften; von den Liedern, welche
den Müllern, den Webern, den Wollen-Arbeitern, den Säug-Ammen
und den Badern zugehörten. Die Griechen hatten auch noch Lieder,
die mit besondern Gelegenheiten und Gebräuchen verbunden waren, wie
das Lied auf die Erigone, die Lieder auf die Theodore, die Julen der
Ceres und der Proserpina, die Philelie des Apollo, die Upingen der
Diana, die Liebes-Lieder, das Hochzeit-Lied, die Freuden-Lieder und
die Trauer-Lieder.

Die Hirten-Lieder. Der Gebrauch der Lieder schickt sich für das
Schäfer-Leben vortrefflich. Das natürliche Wesen der Hirten und die
Musse, deren sie geniessen, reizen sie zu singen; und die lieblichen Bil-
der, womit sie von allen Seiten umgeben sind, werden für sie uner-
schöpfliche Quellen von Liedern. Man macht sich auch von ihrem Zeit-
vertreibe, und selbst von ihrer täglichen Beschäftigung keinen andern
Begriff, als daß sie beständig singen. Man stellet sich in ihren Lie-
dern Lieblichkeit, Zärtlichkeit und ein ungekünsteltes Wesen vor; und
wenn wir sie selbst nicht sehen und hören können, so lieben wir doch we-
nigstens die Lieder, welche auf die Art gemacht sind. Diesem Geschmacke
haben wir unsere Schäfereyen und Hirten-Flöten zu danken, und von
eben demselben haben die andern Völker, welche die Künste getrieben,
auch den schönen Gebrauch des Hirten-Liedes erhalten.

Es giebt also zwo unterschiedene Arten von Hirten-Liedern, die-
jenigen, welche sie selber singen, und die, welche man zur Nachahmung
macht. Da wir so wol die eine, als die andere Art selbst unter uns
haben, so hat man ja noch viel stärkere Ursache, zu glauben, daß sie in
Griechenland im Schwange giengen, wo das Schäfer-Leben gewiß
allgemeiner und edler war, als es bey uns ist. Unterdessen ist doch von
dieser alten Zeit kein Stück mehr übrig, das ein eigentliches Hirten-
Lied seyn sollte. Es ist wahr, Theocritus und die andern griechischen
Dichter lassen ihre Hirten singen, und wenn man die Worte, welche
sie ihnen in den Mund legen, von dem Zusammenhange absondern will,
so könnten sie noch wol für Lieder angesehen werden. Aber ich kann

sie
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Andre Abhandlung.
Von den Liedern, die gewiſſen Handthierungen eigen waren,
oder bey gewiſſen Gelegenheiten gebraucht wurden.

Es ſcheinet, daß in Griechenland jede Handthierung eine Art vom
Liede hatte, die ihr beſonders geheiligt war. Wenigſtens haben
wir noch einige Spuren von Liedern, welche die Hirten ſungen; von
denen, welche die Leute, die des Tags auf dem Felde arbeiteten, zu brau-
chen pflegten; von den Liedern der Schnitter, derer, welche das Korn
droſchen, und derer, welche Waſſer ſchoͤpften; von den Liedern, welche
den Muͤllern, den Webern, den Wollen-Arbeitern, den Saͤug-Ammen
und den Badern zugehoͤrten. Die Griechen hatten auch noch Lieder,
die mit beſondern Gelegenheiten und Gebraͤuchen verbunden waren, wie
das Lied auf die Erigone, die Lieder auf die Theodore, die Julen der
Ceres und der Proſerpina, die Philelie des Apollo, die Upingen der
Diana, die Liebes-Lieder, das Hochzeit-Lied, die Freuden-Lieder und
die Trauer-Lieder.

Die Hirten-Lieder. Der Gebrauch der Lieder ſchickt ſich fuͤr das
Schaͤfer-Leben vortrefflich. Das natuͤrliche Weſen der Hirten und die
Muſſe, deren ſie genieſſen, reizen ſie zu ſingen; und die lieblichen Bil-
der, womit ſie von allen Seiten umgeben ſind, werden fuͤr ſie uner-
ſchoͤpfliche Quellen von Liedern. Man macht ſich auch von ihrem Zeit-
vertreibe, und ſelbſt von ihrer taͤglichen Beſchaͤftigung keinen andern
Begriff, als daß ſie beſtaͤndig ſingen. Man ſtellet ſich in ihren Lie-
dern Lieblichkeit, Zaͤrtlichkeit und ein ungekuͤnſteltes Weſen vor; und
wenn wir ſie ſelbſt nicht ſehen und hoͤren koͤnnen, ſo lieben wir doch we-
nigſtens die Lieder, welche auf die Art gemacht ſind. Dieſem Geſchmacke
haben wir unſere Schaͤfereyen und Hirten-Floͤten zu danken, und von
eben demſelben haben die andern Voͤlker, welche die Kuͤnſte getrieben,
auch den ſchoͤnen Gebrauch des Hirten-Liedes erhalten.

Es giebt alſo zwo unterſchiedene Arten von Hirten-Liedern, die-
jenigen, welche ſie ſelber ſingen, und die, welche man zur Nachahmung
macht. Da wir ſo wol die eine, als die andere Art ſelbſt unter uns
haben, ſo hat man ja noch viel ſtaͤrkere Urſache, zu glauben, daß ſie in
Griechenland im Schwange giengen, wo das Schaͤfer-Leben gewiß
allgemeiner und edler war, als es bey uns iſt. Unterdeſſen iſt doch von
dieſer alten Zeit kein Stuͤck mehr uͤbrig, das ein eigentliches Hirten-
Lied ſeyn ſollte. Es iſt wahr, Theocritus und die andern griechiſchen
Dichter laſſen ihre Hirten ſingen, und wenn man die Worte, welche
ſie ihnen in den Mund legen, von dem Zuſammenhange abſondern will,
ſo koͤnnten ſie noch wol fuͤr Lieder angeſehen werden. Aber ich kann

ſie
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[29/0039] Andre Abhandlung. Von den Liedern, die gewiſſen Handthierungen eigen waren, oder bey gewiſſen Gelegenheiten gebraucht wurden. Es ſcheinet, daß in Griechenland jede Handthierung eine Art vom Liede hatte, die ihr beſonders geheiligt war. Wenigſtens haben wir noch einige Spuren von Liedern, welche die Hirten ſungen; von denen, welche die Leute, die des Tags auf dem Felde arbeiteten, zu brau- chen pflegten; von den Liedern der Schnitter, derer, welche das Korn droſchen, und derer, welche Waſſer ſchoͤpften; von den Liedern, welche den Muͤllern, den Webern, den Wollen-Arbeitern, den Saͤug-Ammen und den Badern zugehoͤrten. Die Griechen hatten auch noch Lieder, die mit beſondern Gelegenheiten und Gebraͤuchen verbunden waren, wie das Lied auf die Erigone, die Lieder auf die Theodore, die Julen der Ceres und der Proſerpina, die Philelie des Apollo, die Upingen der Diana, die Liebes-Lieder, das Hochzeit-Lied, die Freuden-Lieder und die Trauer-Lieder. Die Hirten-Lieder. Der Gebrauch der Lieder ſchickt ſich fuͤr das Schaͤfer-Leben vortrefflich. Das natuͤrliche Weſen der Hirten und die Muſſe, deren ſie genieſſen, reizen ſie zu ſingen; und die lieblichen Bil- der, womit ſie von allen Seiten umgeben ſind, werden fuͤr ſie uner- ſchoͤpfliche Quellen von Liedern. Man macht ſich auch von ihrem Zeit- vertreibe, und ſelbſt von ihrer taͤglichen Beſchaͤftigung keinen andern Begriff, als daß ſie beſtaͤndig ſingen. Man ſtellet ſich in ihren Lie- dern Lieblichkeit, Zaͤrtlichkeit und ein ungekuͤnſteltes Weſen vor; und wenn wir ſie ſelbſt nicht ſehen und hoͤren koͤnnen, ſo lieben wir doch we- nigſtens die Lieder, welche auf die Art gemacht ſind. Dieſem Geſchmacke haben wir unſere Schaͤfereyen und Hirten-Floͤten zu danken, und von eben demſelben haben die andern Voͤlker, welche die Kuͤnſte getrieben, auch den ſchoͤnen Gebrauch des Hirten-Liedes erhalten. Es giebt alſo zwo unterſchiedene Arten von Hirten-Liedern, die- jenigen, welche ſie ſelber ſingen, und die, welche man zur Nachahmung macht. Da wir ſo wol die eine, als die andere Art ſelbſt unter uns haben, ſo hat man ja noch viel ſtaͤrkere Urſache, zu glauben, daß ſie in Griechenland im Schwange giengen, wo das Schaͤfer-Leben gewiß allgemeiner und edler war, als es bey uns iſt. Unterdeſſen iſt doch von dieſer alten Zeit kein Stuͤck mehr uͤbrig, das ein eigentliches Hirten- Lied ſeyn ſollte. Es iſt wahr, Theocritus und die andern griechiſchen Dichter laſſen ihre Hirten ſingen, und wenn man die Worte, welche ſie ihnen in den Mund legen, von dem Zuſammenhange abſondern will, ſo koͤnnten ſie noch wol fuͤr Lieder angeſehen werden. Aber ich kann ſie D 3

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Zitationshilfe: Hagedorn, Friedrich von: Sammlung Neuer Oden und Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1744, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hagedorn_sammlung02_1744/39>, abgerufen am 21.11.2024.