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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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III. Vergleichende Physiologie.
Borelli (1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf rein
physikalische Gesetze zurück, und gleichzeitig versuchte Sylvius
die Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemische
Processe zu erklären; ersterer begründete in der Medicin eine iatro-
mechanische,
letzterer eine iatrochemische Schule. Allein
diese vernünftigen Ansätze zu einer naturgemäßen, mechanischen
Erklärung der Lebens-Erscheinungen vermochten keine allgemeine
Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des
18. Jahrhunderts traten sie ganz zurück, je mehr sich der teleo-
logische Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung
des letzteren und Rückkehr zur ersteren wurde erst vorbereitet,
als im vierten Decennium unseres Jahrhunderts die neue ver-
gleichende
Physiologie sich zu fruchtbarer Geltung erhob.

Vergleichende Physiologie. Wie unsere Kenntnisse vom
Körperbau des Menschen, so wurden auch diejenigen von seiner
Lebensthätigkeit ursprünglich größtentheils nicht durch direkte
Beobachtung am menschlichen Organismus selbst gewonnen, son-
dern an den nächstverwandten höheren Wirbelthieren, vor Allem
den Säugethieren. Insofern waren schon die ältesten Anfänge
der menschlichen Anatomie und Physiologie "vergleichend".
Aber die eigentliche "vergleichende Physiologie", welche das ganze
Gebiet der Lebens-Erscheinungen von den niedersten Thieren bis
zum Menschen hinauf im Zusammenhang erfaßt, ist erst eine
Errungenschaft des 19. Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war
Johannes Müller in Berlin (geb. 1801 in Coblenz als
Sohn eines Schuhmachers). Von 1833-1858, volle 25 Jahre
hindurch, entfaltete dieser vielseitigste und umfassendste Biologe
unserer Zeit an der Berliner Universität als Lehrer und Forscher
eine Thätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirksamkeit von
Haller und Cuvier zu vergleichen ist. Fast alle großen
Biologen, welche in den letzten 60 Jahren in Deutschland lehrten
und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von Johannes

III. Vergleichende Phyſiologie.
Borelli (1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf rein
phyſikaliſche Geſetze zurück, und gleichzeitig verſuchte Sylvius
die Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemiſche
Proceſſe zu erklären; erſterer begründete in der Medicin eine iatro-
mechaniſche,
letzterer eine iatrochemiſche Schule. Allein
dieſe vernünftigen Anſätze zu einer naturgemäßen, mechaniſchen
Erklärung der Lebens-Erſcheinungen vermochten keine allgemeine
Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des
18. Jahrhunderts traten ſie ganz zurück, je mehr ſich der teleo-
logiſche Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung
des letzteren und Rückkehr zur erſteren wurde erſt vorbereitet,
als im vierten Decennium unſeres Jahrhunderts die neue ver-
gleichende
Phyſiologie ſich zu fruchtbarer Geltung erhob.

Vergleichende Phyſiologie. Wie unſere Kenntniſſe vom
Körperbau des Menſchen, ſo wurden auch diejenigen von ſeiner
Lebensthätigkeit urſprünglich größtentheils nicht durch direkte
Beobachtung am menſchlichen Organismus ſelbſt gewonnen, ſon-
dern an den nächſtverwandten höheren Wirbelthieren, vor Allem
den Säugethieren. Inſofern waren ſchon die älteſten Anfänge
der menſchlichen Anatomie und Phyſiologie „vergleichend“.
Aber die eigentliche „vergleichende Phyſiologie“, welche das ganze
Gebiet der Lebens-Erſcheinungen von den niederſten Thieren bis
zum Menſchen hinauf im Zuſammenhang erfaßt, iſt erſt eine
Errungenſchaft des 19. Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war
Johannes Müller in Berlin (geb. 1801 in Coblenz als
Sohn eines Schuhmachers). Von 1833-1858, volle 25 Jahre
hindurch, entfaltete dieſer vielſeitigſte und umfaſſendſte Biologe
unſerer Zeit an der Berliner Univerſität als Lehrer und Forſcher
eine Thätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirkſamkeit von
Haller und Cuvier zu vergleichen iſt. Faſt alle großen
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und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von Johannes

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[53/0069] III. Vergleichende Phyſiologie. Borelli (1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf rein phyſikaliſche Geſetze zurück, und gleichzeitig verſuchte Sylvius die Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemiſche Proceſſe zu erklären; erſterer begründete in der Medicin eine iatro- mechaniſche, letzterer eine iatrochemiſche Schule. Allein dieſe vernünftigen Anſätze zu einer naturgemäßen, mechaniſchen Erklärung der Lebens-Erſcheinungen vermochten keine allgemeine Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des 18. Jahrhunderts traten ſie ganz zurück, je mehr ſich der teleo- logiſche Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung des letzteren und Rückkehr zur erſteren wurde erſt vorbereitet, als im vierten Decennium unſeres Jahrhunderts die neue ver- gleichende Phyſiologie ſich zu fruchtbarer Geltung erhob. Vergleichende Phyſiologie. Wie unſere Kenntniſſe vom Körperbau des Menſchen, ſo wurden auch diejenigen von ſeiner Lebensthätigkeit urſprünglich größtentheils nicht durch direkte Beobachtung am menſchlichen Organismus ſelbſt gewonnen, ſon- dern an den nächſtverwandten höheren Wirbelthieren, vor Allem den Säugethieren. Inſofern waren ſchon die älteſten Anfänge der menſchlichen Anatomie und Phyſiologie „vergleichend“. Aber die eigentliche „vergleichende Phyſiologie“, welche das ganze Gebiet der Lebens-Erſcheinungen von den niederſten Thieren bis zum Menſchen hinauf im Zuſammenhang erfaßt, iſt erſt eine Errungenſchaft des 19. Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war Johannes Müller in Berlin (geb. 1801 in Coblenz als Sohn eines Schuhmachers). Von 1833-1858, volle 25 Jahre hindurch, entfaltete dieſer vielſeitigſte und umfaſſendſte Biologe unſerer Zeit an der Berliner Univerſität als Lehrer und Forſcher eine Thätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirkſamkeit von Haller und Cuvier zu vergleichen iſt. Faſt alle großen Biologen, welche in den letzten 60 Jahren in Deutſchland lehrten und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von Johannes

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/69>, abgerufen am 27.04.2024.