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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Katastrophen-Lehre von Cuvier. V.
(1812) die erste genaue Beschreibung und richtige Deutung zahl-
reicher Petrefakten. Zugleich wies er nach, daß in den ver-
schiedenen Perioden der Erdgeschichte eine Reihe von ganz ver-
schiedenen Thier-Bevölkerungen auf einander gefolgt war. Da
nun Cuvier hartnäckig an Linne's Lehre von der absoluten
Beständigkeit der Species fest hielt, glaubte er deren Entstehung
nur durch die Annahme erklären zu können, daß eine Reihe von
großen Katastrophen und von wiederholten Neuschöpfungen in
der Erdgeschichte auf einander gefolgt sei; im Beginne jeder
großen Erd-Revolution sollten alle lebenden Geschöpfe vernichtet
und am Ende derselben eine neue Bevölkerung erschaffen worden
sein. Obgleich diese Katastrophen-Theorie von Cuvier zu den
absurdesten Folgerungen führte und auf den nackten Wunder-
Glauben hinauslief, gewann sie doch bald allgemeine Geltung
und blieb bis auf Darwin (1859) herrschend.

Transformismus. Goethe. Daß die herrschenden Vor-
stellungen von der absoluten Beständigkeit und übernatürlichen
Schöpfung der organischen Arten tiefer denkende Forscher nicht
befriedigen konnten, ist leicht einzusehen. Daher finden wir denn
schon in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einzelne
hervorragende Geister mit Versuchen beschäftigt, zu einer natur-
gemäßen Lösung des großen "Schöpfungs-Problems" zu gelangen.
Allen voran war unser größter Dichter und Denker Wolfgang
Goethe
durch seine vieljährigen und eifrigen morphologischen
Studien bereits vor mehr als hundert Jahren zu der klaren
Einsicht in den inneren Zusammenhang aller organischen Formen
und zu der festen Ueberzeugung eines gemeinsamen natürlichen
Ursprungs gelangt. In seiner berühmten "Metamorphose der
Pflanzen" (1790) leitete er alle verschiedenen Formen der Ge-
wächse von einer Urpflanze ab, und alle verschiedenen Organe
derselben von einem Urorgane, dem Blatt. In seiner Wirbel-
theorie des Schädels versuchte er zu zeigen, daß die Schädel

Kataſtrophen-Lehre von Cuvier. V.
(1812) die erſte genaue Beſchreibung und richtige Deutung zahl-
reicher Petrefakten. Zugleich wies er nach, daß in den ver-
ſchiedenen Perioden der Erdgeſchichte eine Reihe von ganz ver-
ſchiedenen Thier-Bevölkerungen auf einander gefolgt war. Da
nun Cuvier hartnäckig an Linné's Lehre von der abſoluten
Beſtändigkeit der Species feſt hielt, glaubte er deren Entſtehung
nur durch die Annahme erklären zu können, daß eine Reihe von
großen Kataſtrophen und von wiederholten Neuſchöpfungen in
der Erdgeſchichte auf einander gefolgt ſei; im Beginne jeder
großen Erd-Revolution ſollten alle lebenden Geſchöpfe vernichtet
und am Ende derſelben eine neue Bevölkerung erſchaffen worden
ſein. Obgleich dieſe Kataſtrophen-Theorie von Cuvier zu den
abſurdeſten Folgerungen führte und auf den nackten Wunder-
Glauben hinauslief, gewann ſie doch bald allgemeine Geltung
und blieb bis auf Darwin (1859) herrſchend.

Transformismus. Goethe. Daß die herrſchenden Vor-
ſtellungen von der abſoluten Beſtändigkeit und übernatürlichen
Schöpfung der organiſchen Arten tiefer denkende Forſcher nicht
befriedigen konnten, iſt leicht einzuſehen. Daher finden wir denn
ſchon in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einzelne
hervorragende Geiſter mit Verſuchen beſchäftigt, zu einer natur-
gemäßen Löſung des großen „Schöpfungs-Problems“ zu gelangen.
Allen voran war unſer größter Dichter und Denker Wolfgang
Goethe
durch ſeine vieljährigen und eifrigen morphologiſchen
Studien bereits vor mehr als hundert Jahren zu der klaren
Einſicht in den inneren Zuſammenhang aller organiſchen Formen
und zu der feſten Ueberzeugung eines gemeinſamen natürlichen
Urſprungs gelangt. In ſeiner berühmten „Metamorphoſe der
Pflanzen“ (1790) leitete er alle verſchiedenen Formen der Ge-
wächſe von einer Urpflanze ab, und alle verſchiedenen Organe
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theorie des Schädels verſuchte er zu zeigen, daß die Schädel

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[86/0102] Kataſtrophen-Lehre von Cuvier. V. (1812) die erſte genaue Beſchreibung und richtige Deutung zahl- reicher Petrefakten. Zugleich wies er nach, daß in den ver- ſchiedenen Perioden der Erdgeſchichte eine Reihe von ganz ver- ſchiedenen Thier-Bevölkerungen auf einander gefolgt war. Da nun Cuvier hartnäckig an Linné's Lehre von der abſoluten Beſtändigkeit der Species feſt hielt, glaubte er deren Entſtehung nur durch die Annahme erklären zu können, daß eine Reihe von großen Kataſtrophen und von wiederholten Neuſchöpfungen in der Erdgeſchichte auf einander gefolgt ſei; im Beginne jeder großen Erd-Revolution ſollten alle lebenden Geſchöpfe vernichtet und am Ende derſelben eine neue Bevölkerung erſchaffen worden ſein. Obgleich dieſe Kataſtrophen-Theorie von Cuvier zu den abſurdeſten Folgerungen führte und auf den nackten Wunder- Glauben hinauslief, gewann ſie doch bald allgemeine Geltung und blieb bis auf Darwin (1859) herrſchend. Transformismus. Goethe. Daß die herrſchenden Vor- ſtellungen von der abſoluten Beſtändigkeit und übernatürlichen Schöpfung der organiſchen Arten tiefer denkende Forſcher nicht befriedigen konnten, iſt leicht einzuſehen. Daher finden wir denn ſchon in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einzelne hervorragende Geiſter mit Verſuchen beſchäftigt, zu einer natur- gemäßen Löſung des großen „Schöpfungs-Problems“ zu gelangen. Allen voran war unſer größter Dichter und Denker Wolfgang Goethe durch ſeine vieljährigen und eifrigen morphologiſchen Studien bereits vor mehr als hundert Jahren zu der klaren Einſicht in den inneren Zuſammenhang aller organiſchen Formen und zu der feſten Ueberzeugung eines gemeinſamen natürlichen Urſprungs gelangt. In ſeiner berühmten „Metamorphoſe der Pflanzen“ (1790) leitete er alle verſchiedenen Formen der Ge- wächſe von einer Urpflanze ab, und alle verſchiedenen Organe derſelben von einem Urorgane, dem Blatt. In ſeiner Wirbel- theorie des Schädels verſuchte er zu zeigen, daß die Schädel

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/102>, abgerufen am 26.04.2024.