Die vorliegenden Studien über monistische Philosophie sind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit suchenden Gebildeten aller Stände bestimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des neunzehnten Jahrhunderts, an dessen Ende wir stehen, gehört das lebendige Wachsthum des Strebens nach Erkenntniß der Wahrheit in weitesten Kreisen. Dasselbe erklärt sich einerseits durch die ungeheuren Fortschritte der wirklichen Natur- Erkenntniß in diesem merkwürdigsten Abschnitte der menschlichen Geschichte, andererseits durch den offenkundigen Widerspruch, in den dieselbe zur gelehrten Tradition der "Offenbarung" gerathen ist, und endlich durch die entsprechende Ausbreitung und Ver- stärkung des vernünftigen Bedürfnisses nach Verständniß der unzähligen neu entdeckten Thatsachen, nach klarer Erkenntniß ihrer Ursachen.
Den gewaltigen Fortschritten der empirischen Kenntnisse in unserem "Jahrhundert der Naturwissenschaft" ent- spricht keineswegs eine gleiche Klärung ihres theoretischen Ver- ständnisses und jene höhere Erkenntniß des kausalen Zusammen- hanges aller einzelnen Erscheinungen, die wir mit einem Worte Philosophie nennen. Vielmehr sehen wir, daß die abstrakte und größtentheils metaphysische Wissenschaft, welche auf unseren Universitäten seit Jahrhunderten als "Philosophie" gelehrt wird,
*
Vorwort.
Die vorliegenden Studien über moniſtiſche Philoſophie ſind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit ſuchenden Gebildeten aller Stände beſtimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des neunzehnten Jahrhunderts, an deſſen Ende wir ſtehen, gehört das lebendige Wachsthum des Strebens nach Erkenntniß der Wahrheit in weiteſten Kreiſen. Dasſelbe erklärt ſich einerſeits durch die ungeheuren Fortſchritte der wirklichen Natur- Erkenntniß in dieſem merkwürdigſten Abſchnitte der menſchlichen Geſchichte, andererſeits durch den offenkundigen Widerſpruch, in den dieſelbe zur gelehrten Tradition der „Offenbarung“ gerathen iſt, und endlich durch die entſprechende Ausbreitung und Ver- ſtärkung des vernünftigen Bedürfniſſes nach Verſtändniß der unzähligen neu entdeckten Thatſachen, nach klarer Erkenntniß ihrer Urſachen.
Den gewaltigen Fortſchritten der empiriſchen Kenntniſſe in unſerem „Jahrhundert der Naturwiſſenſchaft“ ent- ſpricht keineswegs eine gleiche Klärung ihres theoretiſchen Ver- ſtändniſſes und jene höhere Erkenntniß des kauſalen Zuſammen- hanges aller einzelnen Erſcheinungen, die wir mit einem Worte Philoſophie nennen. Vielmehr ſehen wir, daß die abſtrakte und größtentheils metaphyſiſche Wiſſenſchaft, welche auf unſeren Univerſitäten ſeit Jahrhunderten als „Philoſophie“ gelehrt wird,
*
<TEI><text><front><pbfacs="#f0009"n="[III]"/><divn="1"><head><hirendition="#g">Vorwort</hi>.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>ie vorliegenden Studien über <hirendition="#g">moniſtiſche Philoſophie</hi><lb/>ſind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit ſuchenden Gebildeten<lb/>
aller Stände beſtimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des<lb/>
neunzehnten Jahrhunderts, an deſſen Ende wir ſtehen, gehört<lb/>
das lebendige Wachsthum des Strebens nach <hirendition="#g">Erkenntniß<lb/>
der Wahrheit</hi> in weiteſten Kreiſen. Dasſelbe erklärt ſich<lb/>
einerſeits durch die ungeheuren Fortſchritte der wirklichen Natur-<lb/>
Erkenntniß in dieſem merkwürdigſten Abſchnitte der menſchlichen<lb/>
Geſchichte, andererſeits durch den offenkundigen Widerſpruch, in<lb/>
den dieſelbe zur gelehrten Tradition der „Offenbarung“ gerathen<lb/>
iſt, und endlich durch die entſprechende Ausbreitung und Ver-<lb/>ſtärkung des vernünftigen Bedürfniſſes nach Verſtändniß der<lb/>
unzähligen neu entdeckten Thatſachen, nach klarer Erkenntniß<lb/>
ihrer Urſachen.</p><lb/><p>Den gewaltigen Fortſchritten der empiriſchen Kenntniſſe in<lb/>
unſerem „<hirendition="#g">Jahrhundert der Naturwiſſenſchaft</hi>“ ent-<lb/>ſpricht keineswegs eine gleiche Klärung ihres theoretiſchen Ver-<lb/>ſtändniſſes und jene höhere Erkenntniß des kauſalen Zuſammen-<lb/>
hanges aller einzelnen Erſcheinungen, die wir mit einem Worte<lb/><hirendition="#g">Philoſophie</hi> nennen. Vielmehr ſehen wir, daß die abſtrakte<lb/>
und größtentheils metaphyſiſche Wiſſenſchaft, welche auf unſeren<lb/>
Univerſitäten ſeit Jahrhunderten als „Philoſophie“ gelehrt wird,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">*</fw><lb/></p></div></front></text></TEI>
[[III]/0009]
Vorwort.
Die vorliegenden Studien über moniſtiſche Philoſophie
ſind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit ſuchenden Gebildeten
aller Stände beſtimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des
neunzehnten Jahrhunderts, an deſſen Ende wir ſtehen, gehört
das lebendige Wachsthum des Strebens nach Erkenntniß
der Wahrheit in weiteſten Kreiſen. Dasſelbe erklärt ſich
einerſeits durch die ungeheuren Fortſchritte der wirklichen Natur-
Erkenntniß in dieſem merkwürdigſten Abſchnitte der menſchlichen
Geſchichte, andererſeits durch den offenkundigen Widerſpruch, in
den dieſelbe zur gelehrten Tradition der „Offenbarung“ gerathen
iſt, und endlich durch die entſprechende Ausbreitung und Ver-
ſtärkung des vernünftigen Bedürfniſſes nach Verſtändniß der
unzähligen neu entdeckten Thatſachen, nach klarer Erkenntniß
ihrer Urſachen.
Den gewaltigen Fortſchritten der empiriſchen Kenntniſſe in
unſerem „Jahrhundert der Naturwiſſenſchaft“ ent-
ſpricht keineswegs eine gleiche Klärung ihres theoretiſchen Ver-
ſtändniſſes und jene höhere Erkenntniß des kauſalen Zuſammen-
hanges aller einzelnen Erſcheinungen, die wir mit einem Worte
Philoſophie nennen. Vielmehr ſehen wir, daß die abſtrakte
und größtentheils metaphyſiſche Wiſſenſchaft, welche auf unſeren
Univerſitäten ſeit Jahrhunderten als „Philoſophie“ gelehrt wird,
*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. [III]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/9>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.