Alle Verbindlichkeiten zu Geselligkeit und Liebe sind im ursprünglich natürlichen Zustande unvolkommen, und deren Erfüllung kann durch äussere Zwangsmittel nicht erlangt werden. Sie enthalten beiahende Pflichten, wobey es, vermöge der natürlichen Freiheit, auf das Ermessen des Leistenden ankomt, ob die Gelegenheit da- zu vorhanden ist. Ausserdem ist die Liebe, als eine Hauptquelle derselben, eine innerliche Regung, die sich durch äussere Gewalt nicht erzwingen läßt. Ein Volk, das dem andern dergleichen Pflichten abschlägt, wenn es schon sie leisten könte, beleidigt dasselbe daher nicht, ob es gleich gegen die Billigkeit handelt.
*]Grotius L. 2. c. 2. §. 11. giebt die Pflichten unschädli- cher Gefälligkeit zwar für volkomne an, weil bey ihnen die ursprünglichen Gemeinschaftsrechte wieder auflebten; aber Puffendorf und andre rechnen sie mit mehrerm Fug zu den unvolkomnen, weil iedes freie Volk das Recht hat, über sein einmal erworbenes Eigenthum zu schalten. Schrodt P. I. c. 3. §. 10.
§. 15. Rechte darauf.
So unvolkommen die Verbindlichkeit zu Leistung der Liebespflichten auf der einen Seite ist, so unvolkom- men ist auch das Recht, dergleichen mit Gewalt zu er- zwingen, auf der andern Seite. Indes hat das bedür- fende Volk, in Rücksicht sein selbst, doch das Recht, dieselben von andern zu begehren a], dergestalt, daß es niemand daran hindern, oder die Forderung für eine Beleidigung aufnehmen darf; denn es ist verbunden,
seine
Algemeine Grundſaͤtze des Voͤlkerrechts.
§. 14. Verbindlichkeit dazu.
Alle Verbindlichkeiten zu Geſelligkeit und Liebe ſind im urſpruͤnglich natuͤrlichen Zuſtande unvolkommen, und deren Erfuͤllung kann durch aͤuſſere Zwangsmittel nicht erlangt werden. Sie enthalten beiahende Pflichten, wobey es, vermoͤge der natuͤrlichen Freiheit, auf das Ermeſſen des Leiſtenden ankomt, ob die Gelegenheit da- zu vorhanden iſt. Auſſerdem iſt die Liebe, als eine Hauptquelle derſelben, eine innerliche Regung, die ſich durch aͤuſſere Gewalt nicht erzwingen laͤßt. Ein Volk, das dem andern dergleichen Pflichten abſchlaͤgt, wenn es ſchon ſie leiſten koͤnte, beleidigt daſſelbe daher nicht, ob es gleich gegen die Billigkeit handelt.
*]Grotius L. 2. c. 2. §. 11. giebt die Pflichten unſchaͤdli- cher Gefaͤlligkeit zwar fuͤr volkomne an, weil bey ihnen die urſpruͤnglichen Gemeinſchaftsrechte wieder auflebten; aber Puffendorf und andre rechnen ſie mit mehrerm Fug zu den unvolkomnen, weil iedes freie Volk das Recht hat, uͤber ſein einmal erworbenes Eigenthum zu ſchalten. Schrodt P. I. c. 3. §. 10.
§. 15. Rechte darauf.
So unvolkommen die Verbindlichkeit zu Leiſtung der Liebespflichten auf der einen Seite iſt, ſo unvolkom- men iſt auch das Recht, dergleichen mit Gewalt zu er- zwingen, auf der andern Seite. Indes hat das beduͤr- fende Volk, in Ruͤckſicht ſein ſelbſt, doch das Recht, dieſelben von andern zu begehren a], dergeſtalt, daß es niemand daran hindern, oder die Forderung fuͤr eine Beleidigung aufnehmen darf; denn es iſt verbunden,
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Algemeine Grundſaͤtze des Voͤlkerrechts.
§. 14.
Verbindlichkeit dazu.
Alle Verbindlichkeiten zu Geſelligkeit und Liebe ſind
im urſpruͤnglich natuͤrlichen Zuſtande unvolkommen, und
deren Erfuͤllung kann durch aͤuſſere Zwangsmittel nicht
erlangt werden. Sie enthalten beiahende Pflichten,
wobey es, vermoͤge der natuͤrlichen Freiheit, auf das
Ermeſſen des Leiſtenden ankomt, ob die Gelegenheit da-
zu vorhanden iſt. Auſſerdem iſt die Liebe, als eine
Hauptquelle derſelben, eine innerliche Regung, die ſich
durch aͤuſſere Gewalt nicht erzwingen laͤßt. Ein Volk,
das dem andern dergleichen Pflichten abſchlaͤgt, wenn
es ſchon ſie leiſten koͤnte, beleidigt daſſelbe daher nicht,
ob es gleich gegen die Billigkeit handelt.
*] Grotius L. 2. c. 2. §. 11. giebt die Pflichten unſchaͤdli-
cher Gefaͤlligkeit zwar fuͤr volkomne an, weil bey ihnen
die urſpruͤnglichen Gemeinſchaftsrechte wieder auflebten;
aber Puffendorf und andre rechnen ſie mit mehrerm Fug
zu den unvolkomnen, weil iedes freie Volk das Recht
hat, uͤber ſein einmal erworbenes Eigenthum zu ſchalten.
Schrodt P. I. c. 3. §. 10.
§. 15.
Rechte darauf.
So unvolkommen die Verbindlichkeit zu Leiſtung der
Liebespflichten auf der einen Seite iſt, ſo unvolkom-
men iſt auch das Recht, dergleichen mit Gewalt zu er-
zwingen, auf der andern Seite. Indes hat das beduͤr-
fende Volk, in Ruͤckſicht ſein ſelbſt, doch das Recht,
dieſelben von andern zu begehren a], dergeſtalt, daß es
niemand daran hindern, oder die Forderung fuͤr eine
Beleidigung aufnehmen darf; denn es iſt verbunden,
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Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/425>, abgerufen am 22.02.2025.
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