Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite
Von den souverainen Staaten überhaupt,
§. 43.
Verlust der Souverainetät.

Die Souverainetät einer Nazion kan indes, mit oder
wider Willen derselben, verlohren gehn, wenn entweder
ein Staat, der die gemeinschaftliche Wohlfahrt allein zu
befördern und gegen auswärtige Gewalt sich selbst zu ver-
theidigen und zu erhalten nicht vermag, sich einer andern
Macht freiwillig unterwirft, oder von derselben unter-
iocht wird. Dies kan auf verschiedene Art geschehen,
indem der schwächere Staat noch einige Souverainetäts-
rechte behält, oder als ein Haupttheil, die Souveraine-
tät des größern Staats erkent, oder demselben gänzlich
einverleibt wird a]. Kurz alles, was das Recht eines
Volks sich selbst zu regieren zernichtet, ihm seine eigne
Staatsverfassung nimt, und dasselbe der Wilkühr und
Bothmäßigkeit eines Andern unterwirft, hebt dessen
Souverainetät und den Gebrauch des Völkerrechts auf b].

Dergleichen Beschaffenheit hatte es ehemals mit den
meisten von den Römern eroberten Provinzen, selbst mit
verschiedenen ihrer Bundsgenossen. Ließ man ihnen
gleich zum Theil ihre eigenen Gesetze, so bedienten sie sich
deren doch nicht aus eigner Macht, sondern aus Nach-
sicht des höhern Staats.

In den ältern Zeiten ward die Anzahl der souverai-
nen Staaten in Europa mehrmalen vermindert. Das
neuste Beispiel eines Staats der seine Unabhängigkeit
sehr kurze Zeit genoß, giebt die Krim. Sie stand,
nach verschiedenen vorherigen Beherschern, seit 1473 un-
ter der Bothmäßigkeit des türkischen Kaisers, der ihre
Regenten die Chans, besonders seit 1584 nach Gefallen
ein- und absetzte. Als in dem 1768 zwischen Rußland
und der Pforte ausgebrochenen Kriege, ersteres die Krim
1771 eroberte, und der Chan entflohe, kündigten die
Krimmischen Tataren, auf Rußlands Veranlassung,

der
Von den ſouverainen Staaten uͤberhaupt,
§. 43.
Verluſt der Souverainetaͤt.

Die Souverainetaͤt einer Nazion kan indes, mit oder
wider Willen derſelben, verlohren gehn, wenn entweder
ein Staat, der die gemeinſchaftliche Wohlfahrt allein zu
befoͤrdern und gegen auswaͤrtige Gewalt ſich ſelbſt zu ver-
theidigen und zu erhalten nicht vermag, ſich einer andern
Macht freiwillig unterwirft, oder von derſelben unter-
iocht wird. Dies kan auf verſchiedene Art geſchehen,
indem der ſchwaͤchere Staat noch einige Souverainetaͤts-
rechte behaͤlt, oder als ein Haupttheil, die Souveraine-
taͤt des groͤßern Staats erkent, oder demſelben gaͤnzlich
einverleibt wird a]. Kurz alles, was das Recht eines
Volks ſich ſelbſt zu regieren zernichtet, ihm ſeine eigne
Staatsverfaſſung nimt, und daſſelbe der Wilkuͤhr und
Bothmaͤßigkeit eines Andern unterwirft, hebt deſſen
Souverainetaͤt und den Gebrauch des Voͤlkerrechts auf b].

Dergleichen Beſchaffenheit hatte es ehemals mit den
meiſten von den Roͤmern eroberten Provinzen, ſelbſt mit
verſchiedenen ihrer Bundsgenoſſen. Ließ man ihnen
gleich zum Theil ihre eigenen Geſetze, ſo bedienten ſie ſich
deren doch nicht aus eigner Macht, ſondern aus Nach-
ſicht des hoͤhern Staats.

In den aͤltern Zeiten ward die Anzahl der ſouverai-
nen Staaten in Europa mehrmalen vermindert. Das
neuſte Beiſpiel eines Staats der ſeine Unabhaͤngigkeit
ſehr kurze Zeit genoß, giebt die Krim. Sie ſtand,
nach verſchiedenen vorherigen Beherſchern, ſeit 1473 un-
ter der Bothmaͤßigkeit des tuͤrkiſchen Kaiſers, der ihre
Regenten die Chans, beſonders ſeit 1584 nach Gefallen
ein- und abſetzte. Als in dem 1768 zwiſchen Rußland
und der Pforte ausgebrochenen Kriege, erſteres die Krim
1771 eroberte, und der Chan entflohe, kuͤndigten die
Krimmiſchen Tataren, auf Rußlands Veranlaſſung,

der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0170" n="144"/>
          <fw place="top" type="header">Von den &#x017F;ouverainen Staaten u&#x0364;berhaupt,</fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 43.<lb/><hi rendition="#g">Verlu&#x017F;t der Souveraineta&#x0364;t</hi>.</head><lb/>
            <p>Die Souveraineta&#x0364;t einer Nazion kan indes, mit oder<lb/>
wider Willen der&#x017F;elben, verlohren gehn, wenn entweder<lb/>
ein Staat, der die gemein&#x017F;chaftliche Wohlfahrt allein zu<lb/>
befo&#x0364;rdern und gegen auswa&#x0364;rtige Gewalt &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu ver-<lb/>
theidigen und zu erhalten nicht vermag, &#x017F;ich einer andern<lb/>
Macht freiwillig unterwirft, oder von der&#x017F;elben unter-<lb/>
iocht wird. Dies kan auf ver&#x017F;chiedene Art ge&#x017F;chehen,<lb/>
indem der &#x017F;chwa&#x0364;chere Staat noch einige Souveraineta&#x0364;ts-<lb/>
rechte beha&#x0364;lt, oder als ein Haupttheil, die Souveraine-<lb/>
ta&#x0364;t des gro&#x0364;ßern Staats erkent, oder dem&#x017F;elben ga&#x0364;nzlich<lb/>
einverleibt wird <hi rendition="#aq"><hi rendition="#sup">a</hi></hi>]. Kurz alles, was das Recht eines<lb/>
Volks &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu regieren zernichtet, ihm &#x017F;eine eigne<lb/>
Staatsverfa&#x017F;&#x017F;ung nimt, und da&#x017F;&#x017F;elbe der Wilku&#x0364;hr und<lb/>
Bothma&#x0364;ßigkeit eines Andern unterwirft, hebt de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Souveraineta&#x0364;t und den Gebrauch des Vo&#x0364;lkerrechts auf <hi rendition="#aq"><hi rendition="#sup">b</hi></hi>].</p><lb/>
            <p>Dergleichen Be&#x017F;chaffenheit hatte es ehemals mit den<lb/>
mei&#x017F;ten von den Ro&#x0364;mern eroberten Provinzen, &#x017F;elb&#x017F;t mit<lb/>
ver&#x017F;chiedenen ihrer Bundsgeno&#x017F;&#x017F;en. Ließ man ihnen<lb/>
gleich zum Theil ihre eigenen Ge&#x017F;etze, &#x017F;o bedienten &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
deren doch nicht aus eigner Macht, &#x017F;ondern aus Nach-<lb/>
&#x017F;icht des ho&#x0364;hern Staats.</p><lb/>
            <p>In den a&#x0364;ltern Zeiten ward die Anzahl der &#x017F;ouverai-<lb/>
nen Staaten in Europa mehrmalen vermindert. Das<lb/>
neu&#x017F;te Bei&#x017F;piel eines Staats der &#x017F;eine Unabha&#x0364;ngigkeit<lb/>
&#x017F;ehr kurze Zeit genoß, giebt die Krim. Sie &#x017F;tand,<lb/>
nach ver&#x017F;chiedenen vorherigen Beher&#x017F;chern, &#x017F;eit 1473 un-<lb/>
ter der Bothma&#x0364;ßigkeit des tu&#x0364;rki&#x017F;chen Kai&#x017F;ers, der ihre<lb/>
Regenten die Chans, be&#x017F;onders &#x017F;eit 1584 nach Gefallen<lb/>
ein- und ab&#x017F;etzte. Als in dem 1768 zwi&#x017F;chen Rußland<lb/>
und der Pforte ausgebrochenen Kriege, er&#x017F;teres die Krim<lb/>
1771 eroberte, und der Chan entflohe, ku&#x0364;ndigten die<lb/>
Krimmi&#x017F;chen Tataren, auf Rußlands Veranla&#x017F;&#x017F;ung,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0170] Von den ſouverainen Staaten uͤberhaupt, §. 43. Verluſt der Souverainetaͤt. Die Souverainetaͤt einer Nazion kan indes, mit oder wider Willen derſelben, verlohren gehn, wenn entweder ein Staat, der die gemeinſchaftliche Wohlfahrt allein zu befoͤrdern und gegen auswaͤrtige Gewalt ſich ſelbſt zu ver- theidigen und zu erhalten nicht vermag, ſich einer andern Macht freiwillig unterwirft, oder von derſelben unter- iocht wird. Dies kan auf verſchiedene Art geſchehen, indem der ſchwaͤchere Staat noch einige Souverainetaͤts- rechte behaͤlt, oder als ein Haupttheil, die Souveraine- taͤt des groͤßern Staats erkent, oder demſelben gaͤnzlich einverleibt wird a]. Kurz alles, was das Recht eines Volks ſich ſelbſt zu regieren zernichtet, ihm ſeine eigne Staatsverfaſſung nimt, und daſſelbe der Wilkuͤhr und Bothmaͤßigkeit eines Andern unterwirft, hebt deſſen Souverainetaͤt und den Gebrauch des Voͤlkerrechts auf b]. Dergleichen Beſchaffenheit hatte es ehemals mit den meiſten von den Roͤmern eroberten Provinzen, ſelbſt mit verſchiedenen ihrer Bundsgenoſſen. Ließ man ihnen gleich zum Theil ihre eigenen Geſetze, ſo bedienten ſie ſich deren doch nicht aus eigner Macht, ſondern aus Nach- ſicht des hoͤhern Staats. In den aͤltern Zeiten ward die Anzahl der ſouverai- nen Staaten in Europa mehrmalen vermindert. Das neuſte Beiſpiel eines Staats der ſeine Unabhaͤngigkeit ſehr kurze Zeit genoß, giebt die Krim. Sie ſtand, nach verſchiedenen vorherigen Beherſchern, ſeit 1473 un- ter der Bothmaͤßigkeit des tuͤrkiſchen Kaiſers, der ihre Regenten die Chans, beſonders ſeit 1584 nach Gefallen ein- und abſetzte. Als in dem 1768 zwiſchen Rußland und der Pforte ausgebrochenen Kriege, erſteres die Krim 1771 eroberte, und der Chan entflohe, kuͤndigten die Krimmiſchen Tataren, auf Rußlands Veranlaſſung, der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/170
Zitationshilfe: Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/170>, abgerufen am 21.11.2024.