Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.Bestätigung durch die Geschichte ausheimischer Poesie. Auf das alte Epos folgt überall eine Poesie, die statt 139) Man dürfte kühnlich einzelne Strophen der einfachen vier-
zeiligen Lieder in der maneß. S. in die Nibelungen einschalten, wo sie nicht stören würden. Die ganze Idee der Tage- oder Wächterlieder ist höchst volksmäßig. Beſtaͤtigung durch die Geſchichte ausheimiſcher Poeſie. Auf das alte Epos folgt uͤberall eine Poeſie, die ſtatt 139) Man duͤrfte kuͤhnlich einzelne Strophen der einfachen vier-
zeiligen Lieder in der maneß. S. in die Nibelungen einſchalten, wo ſie nicht ſtoͤren wuͤrden. Die ganze Idee der Tage- oder Waͤchterlieder iſt hoͤchſt volksmaͤßig. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb n="141" facs="#f0151"/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Beſtaͤtigung<lb/> durch<lb/> die Geſchichte ausheimiſcher Poeſie</hi>.</head><lb/> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> <p>Auf das alte Epos folgt uͤberall eine Poeſie, die ſtatt<lb/> aus dem Gemuͤth des Ganzen, aus dem des Einzelnen hervor-<lb/> quillt. Wie in unſerm Meiſtergeſang Kunſtpoeſie walte, habe<lb/> ich ſeither zu begruͤnden geſucht. Es kann gar nicht anders<lb/> ſeyn, als daß in den aͤlteſten Minneliedern nicht noch hin nnd<lb/> wieder Klaͤnge aus den alten epiſchen geblieben ſeyn ſollten <note place="foot" n="139)">Man duͤrfte kuͤhnlich <hi rendition="#g">einzelne</hi> Strophen der einfachen vier-<lb/> zeiligen Lieder in der maneß. S. in die Nibelungen einſchalten,<lb/> wo ſie nicht ſtoͤren wuͤrden. Die ganze Idee der Tage- oder<lb/> Waͤchterlieder iſt hoͤchſt volksmaͤßig.</note>,<lb/> jedoch iſt der Totaleindruck deutlich ein verſchiedener. Wir<lb/> hoͤren nicht mehr den ruhigen, gleichen Fluß einer hohen Ge-<lb/> ſchichte, wir fuͤhlen, daß dieſe Lieder Herzensergießungen ge-<lb/> worden ſind, in denen ſich die Seele eines einzigen Menſchen<lb/> ſeine Luſt uͤberdenkt, oder an ſeiner Trauer weidet. Dieſe<lb/> Individualitaͤt leuchtet auch aus dem ſpielenden Wohlgefallen<lb/> an Toͤnen und Farben hervor, gerade die Fom war ſo innig<lb/> und weſentlich, daß es daruͤber gar keinen Zweifel zu geben<lb/> ſchien. In dem Anſetzen und Feſthalten einer ſolchen Sitte<lb/> haben wir den einzigen Urſprung des Meiſtergeſangs gefunden<lb/> und gleichwie der Erfolg nur dadurch verſtaͤndlich, ſo macht<lb/> auch er jene Entſtehung erſt ganz gewiß; als die Poeſie im-<lb/> mer einen tiefſinnigeren, ernſteren Gang nahm, als ſie ihre<lb/> Schritte immer ſteifer und feſter that, da war ihr Ende laͤngſt<lb/> vorbereitet und die alleinige Herrſchaft des Foͤrmlichen mußte<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [141/0151]
Beſtaͤtigung
durch
die Geſchichte ausheimiſcher Poeſie.
Auf das alte Epos folgt uͤberall eine Poeſie, die ſtatt
aus dem Gemuͤth des Ganzen, aus dem des Einzelnen hervor-
quillt. Wie in unſerm Meiſtergeſang Kunſtpoeſie walte, habe
ich ſeither zu begruͤnden geſucht. Es kann gar nicht anders
ſeyn, als daß in den aͤlteſten Minneliedern nicht noch hin nnd
wieder Klaͤnge aus den alten epiſchen geblieben ſeyn ſollten 139),
jedoch iſt der Totaleindruck deutlich ein verſchiedener. Wir
hoͤren nicht mehr den ruhigen, gleichen Fluß einer hohen Ge-
ſchichte, wir fuͤhlen, daß dieſe Lieder Herzensergießungen ge-
worden ſind, in denen ſich die Seele eines einzigen Menſchen
ſeine Luſt uͤberdenkt, oder an ſeiner Trauer weidet. Dieſe
Individualitaͤt leuchtet auch aus dem ſpielenden Wohlgefallen
an Toͤnen und Farben hervor, gerade die Fom war ſo innig
und weſentlich, daß es daruͤber gar keinen Zweifel zu geben
ſchien. In dem Anſetzen und Feſthalten einer ſolchen Sitte
haben wir den einzigen Urſprung des Meiſtergeſangs gefunden
und gleichwie der Erfolg nur dadurch verſtaͤndlich, ſo macht
auch er jene Entſtehung erſt ganz gewiß; als die Poeſie im-
mer einen tiefſinnigeren, ernſteren Gang nahm, als ſie ihre
Schritte immer ſteifer und feſter that, da war ihr Ende laͤngſt
vorbereitet und die alleinige Herrſchaft des Foͤrmlichen mußte
139) Man duͤrfte kuͤhnlich einzelne Strophen der einfachen vier-
zeiligen Lieder in der maneß. S. in die Nibelungen einſchalten,
wo ſie nicht ſtoͤren wuͤrden. Die ganze Idee der Tage- oder
Waͤchterlieder iſt hoͤchſt volksmaͤßig.
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Zitationshilfe: | Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/151>, abgerufen am 03.03.2025. |